Die Arbeit der Nacht
Bild machen. Offenbar war Ingo beim Spielen auf die Straße gelaufen, und ein Motorradfahrer hatte nicht mehr ausweichen können. Der Rückspiegel hatte dem Jungen das Genick gebrochen.
Ein Rückspiegel. So etwas hatte Jonas noch nie gehört.
Aufgewühlt ging er durch die Wohnung. Das Zusammentreffen mit dem Motorradfahrer war schuld, daß der Kleine gestorben war. Den dreißigjährigen Ingo hatte es nicht gegeben, weil der zehnjährige verunglückt war. Dem Dreißigjährigen wäre vielleicht nichts geschehen, er hätte den Zehnjährigen schützen können. Doch der Zehnjährige hatte den Dreißigjährigen nicht schützen können.
Derselbe Mensch. Der eine jung, der andere erwachsen. Den zweiten gab es nicht, weil dem ersten ein Unglück widerfahren war. Ein Rückspiegel, der dem Älteren nicht viel hätte anhaben können, hatte dem Kleinen das Genick gebrochen.
Jonas stellte sich den dreißigjährigen Ingo vor, der auf der anderen Straßenseite stand und sah, wie das Motorrad den Zehnjährigen niederstieß. Der wußte, daß es ihn nun niemals geben würde. Ob die beiden miteinander sprachen? Entschuldigte sich der Zehnjährige traurig beim Dreißigjährigen? Tröstete dieser ihn, es sei ein Unfall gewesen, er trage keine Schuld?
Und Jonas selbst? Wenn ihn ein Auto erwischt hätte als Kind? Oder eine Krankheit? Gar ein Mord? Es hätte den Zwanzigjährigen nicht gegeben, den Dreißigjährigen nicht, es würde den Vierzigjährigen nicht geben und nicht den Achtzigjährigen.
Oder womöglich doch? Hätte es den Älteren gegeben? Irgendwie, irgendwo? In einer nicht verwirklichten Form?
Er stellte den Lkw vor dem Haus ab. Die Straße lag verlassen da. Leise plätscherte der Donaukanal vorüber. Nichts schien sich verändert zu haben.
In der Wohnung packte er die Kleider des Zwerges aus Attnang-Puchheim in die Reisetasche. Er machte einen letzten Rundgang. Die aufblasbare Puppe lag in der Badewanne, wie er sie hineingeworfen hatte. Der Müllsack, in den er das zerschlagene Mauerwerk eingefüllt hatte, quoll über. Er band ihn zu und stemmte ihn aus dem Fenster. Er weidete sich am Anblick des durch die Luft fliegenden Sacks. Mit einem Krachen schlug dieser auf dem Dach eines Autos auf.
Er überlegte. Er hatte alles.
Er war besorgt gewesen, der Platz könne knapp werden. Doch nachdem er den Geländewagen scheppernd über die Rampe auf die Ladefläche gerollt hatte, hielt er gut zwei Meter hinter dem Spider, den er schon in der Hollandstraße in den Lkw gefahren hatte, und dennoch ging die Heckklappe zu. Es gab sogar noch Spielraum.
Nahe dem Augarten fand er eine Tankstelle. Während der Treibstoff einlief, durchstöberte er den Shop. Keine Zeitung, keine Zeitschrift im Regal, die er nicht kannte, die er nicht schon zumindest durchgeblättert hatte. Das Geschäft führte eine Vielzahl an Plüschtieren, Kaffeetassen mit Namenszug, Sonnenbrillen, Miniaturen des Stephansdoms, aber auch Getränke und Süßigkeiten. Jonas packte sich eine Tüte voll, wobei er beim Knabbergebäck wahllos zugriff. In eine zweite warf er Limonadedosen.
Neben den Produkten für Scheiben- und Motorpflege steckten in einem Drehregal phosphoreszierende Namenstafeln, wie sie Truckfahrer gern hinter die Windschutzscheibe legten. Es gab einen Albert, darunter steckte Alfons, dann kam Anton. Aus Neugier suchte er nach dem J. Zu seinem Erstaunen fand er zwischen Joker und Josef einen Jonas. Er nahm die Tafel und schob sie hinter die Windschutzscheibe des Lkws.
Es dunkelte noch nicht, dennoch machte er die Kameras für die Nacht fertig. Er war müde und wollte früh losfahren. Zudem hoffte er, wenn er sich das Band von vergangener Nacht noch vor Sonnenuntergang ansah, würde es sich nicht so sehr auf seinen Seelenzustand niederschlagen.
Er versperrte die Tür. Er schloß alle Fenster. Er blickte auf die Hollandstraße hinaus. Der Lkw parkte vor dem Haus nebenan, um nicht die Aussicht zu verstellen. Keine Bewegung war zu sehen. Direkt hinter der Fensterscheibe zeigte Jonas dem Nichts die lange Nase und streckte die Zunge heraus.
Das Bett war leer.
Der Schläfer nicht zu sehen.
Das Messer steckte in der Mauer.
Jonas fragte sich, um wieviel Uhr aufgenommen worden war. An die programmierte Stunde konnte er sich nicht erinnern. Und wie so oft lag der Wecker mit dem Zifferblatt nach unten auf dem Bett. Obwohl er ihn zur Kamera gedreht hatte.
Er wollte schon auf doppelte Geschwindigkeit schalten, da hörte er im Fernseher einen Laut. Es war ein
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