Die Arche
tatsächlich getan. In jenem nebelhaften
Übergangsstadium vom Traum zur Realität hatte er sich
für einen Moment der Hoffnung hingegeben, die Ereignisse in
seiner Erinnerung gehörten eigentlich in eine Serie von
Träumen; Albträumen der Art, wie sie jeden Soldaten
quälten, der noch einen Rest von Gewissen besaß und
genügend Erfahrung mit Kriegen – mit der Geschichte –
gemacht hatte, um zu wissen, dass sich Entscheidungen, die einem in
der aktuellen Situation richtig erschienen waren, später als
verheerende Fehler herausstellen konnten. Aber nein, er hatte nicht
geträumt, er hatte wirklich sein Volk verraten. Denn ein Verrat
war es, wenn auch aus den lautersten Motiven. Man hatte ihm ein
Geheimnis von ungeheurer Tragweite anvertraut, und er hatte dieses
Vertrauen missbraucht.
Alles war so schnell gegangen, dass er nur sehr oberflächlich
hatte abschätzen können, wie sinnvoll es war, zum
Überläufer zu werden. Sobald er die Evakuierungsflotte
gesehen und ihre Bedeutung erkannt hatte, war ihm klar gewesen, dass
er nur eine Chance hatte. Wenn er fort wollte, musste er die Korvette
entführen, und zwar auf der Stelle. Hätte er länger
gewartet – etwa bis zur Rückkehr ins Mutternest –,
dann hätte Skade seine Absichten ganz sicher durchschaut.
Misstrauisch war sie ohnehin gewesen, aber sie hätte einige Zeit
gebraucht, um sich in den fremden Strukturen seines Bewusstseins,
zwischen den antiken Implantaten und den halbvergessenen
Neural-Interface-Protokollen zurechtzufinden. Und diese Zeit durfte
er ihr nicht geben.
Deshalb hatte er gehandelt, obwohl er wusste, dass er Felka
wahrscheinlich nicht wiedersehen würde. Wenn er erst in die
nächste und schwierigste Phase seiner Fahnenflucht eingetreten
war, konnte er nicht damit rechnen, noch lange in Freiheit oder auch
nur am Leben zu bleiben. Er hätte sie sehr gern noch ein letztes
Mal gesprochen; zwar hätte sie sich gewiss nicht überreden
lassen, mit ihm zu kommen, und selbst wenn, hätte er nicht
gewusst, wie er ihr zur Flucht verhelfen sollte, aber er hätte
ihr erklären können, was er vorhatte, denn bei ihr
wäre sein Geheimnis sicher gewesen. Und bevor er sie für
immer verließ, hätte sie ihm vielleicht die Frage
beantwortet, die er nie so recht zu stellen gewagt hatte; die Frage,
die zurückreichte bis in Galianas Nest und in die letzten
Kriegstage auf dem Mars, als sie sich kennen gelernt hatten. Er
hätte sie fragen können, ob sie seine Tochter war, und
vielleicht hätte sie ihm sogar geantwortet.
Jetzt musste er weiterleben, ohne es jemals zu erfahren, und
obwohl er den Mut vielleicht gar nicht aufgebracht hätte –
in all den Jahren zuvor hatte er es schließlich nie geschafft
–, stand die Aussicht auf eine Verbannung auf Lebenszeit, die
ihm jede Möglichkeit nähme, jemals die Wahrheit zu
erfahren, wie eine gnadenlos kalte steinerne Mauer vor ihm.
Er musste wohl lernen, damit zu leben.
Es war nicht seine erste Fahnenflucht. Er hatte schon einmal ein
Leben weggeworfen und diesen Akt nicht nur physisch, sondern auch
emotional überstanden. Heute war er sehr viel älter, aber
noch nicht so alt und verbraucht, dass er es nicht noch einmal
schaffen konnte. Zunächst behalf man sich damit, dass man sich
auf die unmittelbare Gegenwart konzentrierte.
Nun denn. Tatsache Eins: Er lebte noch, und seine Verletzungen
waren nicht schwer. Wahrscheinlich befanden sich Raketen auf dem Weg
zu ihm, aber sie konnten erst lange nach der Entführung der
Korvette abgeschossen worden sein, sonst wären sie von den
Passivsensoren bereits registriert worden. Irgendjemand,
wahrscheinlich Remontoire, hatte den Gang der Dinge verzögert
und ihm damit eine Gnadenfrist verschafft. Der Vorsprung war sicher
nicht groß, aber er war immer noch besser dran, als wenn er
bereits tot wäre und als expandierende Wolke von ionisiertem
Schutt durchs All triebe. Der Gedanke entlockte ihm immerhin ein
wehmütiges Lächeln. Sie konnten ihn immer noch töten,
aber nicht mehr so nahe an daheim.
Er kratzte sich den Bart. Seine Muskeln ächzten unter der
hohen Beschleunigung. Die Triebwerke der Korvette lieferten noch
immer den maximalen Dauerschub von drei Ge, steinhart und glatt wie
die Sogwirkung eines Sterns. Das Schiff vernichtete in jeder Sekunde
ein Körnchen Antimaterie von der Größe eines
Bakteriums, aber die Reaktionsmasse aus Antimaterie und metallischem
Wasserstoff war noch kaum angekratzt. Die Korvette konnte ihn
innerhalb des Systems an jeden gewünschten
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