Die Artefakte der Macht 01 - Aurian
dir zu meinem Leidwesen als nächstes erzählen muß.«
Aber Aurians Gewissen rührte sich. Seit sie sich – nachdem Ithalasa sie ausgelesen hatte – ihrer Fehler ganz bewußt war, hatte ihr Zorn auf Anvar nachgelassen und sich in ein erstickendes Schuldgefühl verwandelt. Sie wußte, wie ihre Arroganz ihn verletzt hatte, und sie hatte keine Vorstellung, was wirklich hinter dieser Affäre mit Sara steckte, über die sie sich so bitter entzweit hatten. Sie waren beide im Unrecht gewesen, aber wie oft hatte Forral ihr eingeschärft, niemals ihre Kameraden im Stich zu lassen, ganz gleich, was geschah.Aurian war beschämt, und ganz abgesehen davon, gab es eine mahnende Stimme in ihrem Inneren, einen Instinkt, der sie drängte, sofort zu Anvar zurückzukehren. Es gab nichts daran zu rütteln. Ganz gleich, wie sehr es sie auch ärgerte, sie mußte zurück zu den beiden. Diese Idioten würden allein niemals zurechtkommen, und sie hatte Vannor versprochen, daß sie sich um sein verflixtes, treuloses Weib kümmern würde.
»Weiser, bevor du mir davon erzählst, muß ich meine Gefährten finden. Ich hätte sie nicht allein zurücklassen dürfen, und ich fürchte, daß sie schon in Schwierigkeiten sind.«
Ithalasa seufzte. »Ach, Kleine, habe ich dir nicht gesagt, daß du die Weisheit noch lernen würdest? Aber jetzt, so fürchte ich, mußt du noch etwas anderes lernen – nämlich, dich zwischen einer weniger wichtigen und einer wichtigeren Sache zu entscheiden. Ich kann das Wagnis nicht eingehen, dir den Rest der Geschichte erst später zu erzählen. Obwohl ich das Einverständnis meines Volkes dazu gewonnen habe, gab es doch viele Zweifel. Und jeder von uns kann jederzeit seine Meinung ändern, und selbst wenn das nur einer tut, darf ich dir nichts weiter erzählen. Aus diesem Grund müssen wir so schnell wie möglich handeln. Die Geschichte der Verheerung ist lang, und es hat auch keinen Sinn, wenn wir uns bei Nacht auf die Reise begeben. Außerdem bist du immer noch erschöpft, und wegen des Kindes, das du in dir trägst, benötigst du nach einer so intensiven Gedankenübertragung zunächst einmal Ruhe. Wenn du die Geschichte hören willst, dann können wir erst morgen nach deinen Freunden suchen.«
Aurian biß sich auf die Lippen. Sie saß gefangen in einer Zwickmühle zwischen ihrem Gewissen und ihrem Verstand, der ihr sagte, was jetzt dringend notwendig war. Sie mußte den Rest der Geschichte hören. Die Zukunft der Welt hing vielleicht davon ab. Und Anvar und Sara waren doch bestimmt noch wohlauf, oder? Ithalasa hatte sie an einem sicheren Platz abgesetzt. Aber diese innere Stimme ließ sich nicht zum Schweigen bringen, und sie sagte ihr, daß sie es falsch machte. Aurian schüttelte den Kopf und rang mit sich. Schließlich traf sie ihre Entscheidung. Ich muß hierbleiben und das Ende der Geschichte hören – das ist zu wichtig, als daß ich darauf verzichten könnte. Und wenn ich herausgefunden habe, was ich wissen muß, dann werde ich mich auf den Weg zur Anvar und Sara machen.
Ithalasa wartete so nahe vor der Küste, wie es ihm möglich war, und schwieg – seine Gedankenverbindung zu Aurian war unterbrochen –, bis sie ihr Dilemma gelöst hatte und sich ihm wieder zuwandte. »Also gut«, sagte sie, »ich werde bleiben und hören, was du mir zu erzählen hast.«
»Das ist richtig, glaube ich. Du wirst das Wissen wiedererlangen, das dein Volk vor langer Zeit verloren hat. Mache weisen Gebrauch davon, Kind.« Und dann kamen Ithalasas Gedanken wieder in einer überwältigenden Flut über sie, füllten ihr Bewußtsein mit Worten und Visionen aus, die sich vor ihr entfalteten und sie zur Zeugin der Schrecken und Tragödien lange vergangener Zeiten werden ließen.
In den Tagen des goldenen Zeitalters herrschte überall Frieden und Eintracht. Die vier Rassen der Magusch arbeiteten gemeinsam an ihrer großen Aufgabe, Frieden, Reichtum und Gerechtigkeit in der Welt aufrechtzuerhalten. Aber ständig lauerte hinter dem sorgsam gehüteten Gleichgewicht der Zufall wie ein Wolf und wartete darauf, den Geschicken der Welt eine andere Richtung zu geben.
Unglückverheißende Sterne gingen der Geburt von Incondor und Chiannala voraus. Incondor gehörte zu den Himmelsleuten, war stattlich, muskulös und drahtig. Seine großen, gefiederten Schwingen besaßen die schillernde Schwärze des Rabengefieders. Schon in jungen Jahren war er ein mächtiger Hexer und versprach in dieser Kunst noch größer zu werden, bis er –
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