Die Artefakte der Macht 01 - Aurian
Geschichte. Ihr Volk hatte seit Jahrhunderten in seiner isolierten Bergfeste gelebt, auf terrassenförmig angelegten Feldern robustes Getreide angebaut, sich um seine Bergziegenherden gekümmert und um seine Laufvögel. Aber in den letzten Monaten hatte ein unnatürlicher, so gar nicht der Jahreszeit entsprechender Wintereinbruch ihre Zivilisation beinahe zerstört. Sie erzählte den Magusch von plötzlichen, tödlichen Schneestürmen, von beißender Kälte, die das Land ruiniert hatte, und von dem Aufstieg des bösen, machthungrigen Hohenpriesters. Rabe schauderte, als sie von den Menschenopfern sprach, von Grausamkeiten, die im Namen der Rettung begangen worden waren, von der Hilflosigkeit und der Verzweiflung ihrer Mutter, der Königin. »Dann hat Schwarzkralle darauf bestanden, mich zu seiner Braut zu mache«, sagte sie. »Ich wußte, daß sein Plan war, Flammenschwinge abzusetzen und seine Macht über das Himmelsvolk zu festigen, indem er in meinem Namen regierte.«
Sie erzählte, wie sie mitten im Sturm von Aerillia geflohen war, und von den Härten und Entbehrungen ihrer Wüstendurchquerung, bei der sie nachts von Oase zu Oase geflogen war, erschöpft und hungrig, aber von Angst und Verzweiflung immer weitergetrieben. Tränen standen in ihren Augen. »Ich wollte nicht weglaufen. Es war meine einzige Hoffnung – ich hätte Schwarzkralles Grausamkeit gewiß nicht lange überlebt, doch es hat mir trotzdem das Herz zerrissen, wegzugehen. Aber selbst wenn ich dadurch mein Leben aufs Spiel setzte, ich würde zurückkehren, wenn ich glaubte, etwas tun zu können. Kannst du uns helfen? Bitte? Mein Volk stirbt!«
Aurian wandte den Blick ab, unfähig, Rabe in die Augen zu sehen.
Anvar konnte das Unglück der Magusch sowohl sehen als auch spüren und wußte, was sie denken mußte. Eliseth! Wer sonst hätte diesen unnatürlichen Winter bringen können? Die Geflügelten waren zum Opfer geworden. Ein unbehagliches Schweigen hatte sich über den Raum gesenkt. Ohne Vorwarnung stieß Aurian die Überreste ihres Abendessens zur Seite. Wortlos griff sie dann nach ihrem Stab und hinkte aus dem Raum hinaus. Anvar folgte ihr nach draußen.
Aurian saß mit dem Rücken gegen die Wand des Hauses gelehnt und zitterte ein wenig in der kühlen Wüstennacht, während ihre Augen sich ausdruckslos auf den funkelnden Himmel gerichtet hatten. »Geh weg«, sagte sie, ohne sich zu ihm umzudrehen.
»Nein.« Anvar setzte sich neben sie. »Hör auf, dir selbst die Schuld daran zu geben.«
»Wem sonst sollte ich die Schuld geben?« In ihrer Stimme schwang eine leichte, zornige Schärfe mit. »All das hat begonnen, weil Forral und ich …«
»Sei nicht dumm!« fuhr Anvar sie an. »Aurian, wir haben doch schon so oft darüber gesprochen. Es hat angefangen, weil Miathan die Macht des Kessels zum Bösen gewendet hat. Es hat beginnen können wegen der blinden, arroganten Vorurteile der Magusch gegenüber den Sterblichen. Du hast genug gelitten, ohne dich auch noch wegen der Geflügelten zu zerreißen.«
»Wie kannst du das sagen?« bestürmte Aurian ihn. »Wir sind alle verantwortlich dafür.« Ihre Augen wurden hart. »Ja, sogar du, Anvar. Du hast Forral in dieser Nacht in Miathans Gemach gebracht und den Erzmagusch gezwungen, die Todesgeister loszulassen.«
Anvar fröstelte plötzlich. »Ich habe mich immer gefragt, ob du mir die Schuld an Forrals Tod gibst«, sagte er leise.
Aurian blieb still und weigerte sich, ihn anzusehen. Da er nicht wußte, was er noch hätte sagen können, ging er mit gesenktem Kopf und schweren Schritten zurück ins Haus.
Rabe blickte auf, als er eintrat. »Habe ich etwas Falsches gesagt?« fragte sie ihn ängstlich. Anvar starrte sie an, als käme er gerade aus einem Traum zurück, und sammelte seine verwirrten Gedanken.
»Nein – nichts. Sie braucht etwas Zeit zum Nachdenken.« Shia ließ sich jedoch nicht täuschen. »Soll ich vielleicht zu ihr gehen?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie will allein sein.« Das Licht des Kristalls erstarb langsam. Anvar legte sich daneben, aber auch die letzte Wärme, die der Stein verströmte, konnte die bittere Kälte, die in ihm war, nicht mehr vertreiben. Warum jetzt? Warum beschuldigt sie mich nach all dieser Zeit? Aber sie hatte jedes Recht dazu. Während der Monate ihrer Reise hatte er die Erinnerung an seinen Anteil an Forrals Tod beiseite gedrängt, denn er wollte nicht daran glauben und hoffte gegen alle Vernunft, daß Aurian es ebenfalls nicht tat. Adrian … Wenn
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