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Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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zornig; der scharfe, auf Disziplin bedachte Ton schien eher das Ergebnis strengen Pflichtgefühls zu sein als ein Ausdruck von Empfindlichkeit oder Machtbewußtsein.
    »Ja«, sagte Mischa.
    »Du solltest Manieren lernen. Beeil dich!«
    Aber die Frau ging nicht. Sie blieb in der Nähe stehen und überwachte die Arbeit. Mischa war überzeugt, daß die Frau sich jede der anwesenden Personen eingeprägt hatte und sofort Alarm schlagen würde, wenn sie eine von ihnen vermißte. Im weitläufigen Halbdunkel der Küche mit ihren Vorratslagern und Nebenräumen gab es ungezählte Verstecke, und Mischa vertraute ihrer Fähigkeit, sich an jedem gewöhnlichen Palastbediensteten vorbeizustehlen, aber die Haushofmeisterin schien ein ernstzunehmendes Hindernis zu sein.
    Mischa zog ihre Arbeit nach Kräften in die Länge, ordnete die hartschaligen Früchte in einem symmetrischen Muster und brauchte länger als andere, die größere Lasten abzuladen hatten. Der Lagerraum enthielt interessante Dinge, und es war vielleicht verständlich, daß sie gelegentlich innehielt und neugierig umherblickte, einen unschuldigen Ausdruck naiven Staunens im Gesicht. Und bei jeder dieser Gelegenheiten suchte sie nach Mitteln und Wegen für ein Ablenkungsmanöver. Aber alle Vorratsbehälter waren so groß und schwer, daß nicht daran zu denken war, den einen oder den anderen umzuwerfen. Und die Vorratsschränke an den Wänden waren mit Ausnahme derjenigen, die aufgefüllt wurden, allesamt zugesperrt. Auch Mischas Karren war stabil und widerstandsfähig; ihn einfach umzuwerfen, wäre allzu offensichtlich gewesen.
    Nur zwei andere halbwüchsige Lieferanten waren noch bei ihr, als Mischa ihre Arbeit beendete. Trotz ihres ständigen Bemühens um einen Ausdruck kindlicher Arglosigkeit fing sie wiederholt mißbilligende Blicke der Haushofmeisterin auf. Sie begann sich einzugestehen, daß sie diesmal versagt hatte; und es ärgerte sie, daß sie vergebens körperliche Arbeit auf sich genommen hatte. Diebe arbeiteten nicht mit dem Rücken, sondern mit Händen und Verstand.
    Mischa kehrte mit den Händen Staub, Blätter und Schalenreste ihrer Ladung zu einem säuberlichen Häuflein in der Ecke des Karrens zusammen. In einem benachbarten Raum rief eine Stimme zornige Worte; eine zweite Stimme antwortete in gleicher Weise. Die Aufseherin blickte stirnrunzelnd über die Schulter; als der Streit lauter wurde, ging sie ein paar Schritte weiter, um durch die Tür zu sehen. Mischa nahm den Karren bei den Handgriffen und zog ihn zum Ausgang. Der Streit im Nebenraum nahm seinen Fortgang. Die Haushofmeisterin ging, um nach dem Rechten zu sehen, und ließ den Kücheneingang vorübergehend unbeaufsichtigt.
    Die beiden anderen Trägerinnen machten sich gehorsam auf den Weg hinaus. Mischa ließ sie vorbei und folgte ihnen durch die dampfende Küche. Dabei blieb sie ein wenig zurück, und als der Abstand auf einige Meter angewachsen war und Teile der Kücheneinrichtung sie gegen Sicht von rückwärts schützten, stieß sie den Karren in einen dunklen Winkel und rannte los. Das Geräusch ihrer leichten Schritte ging im Hintergrundgeräusch der Küche unter, und niemand sah sie, als sie durch den Vorhang hinausschlüpfte.
    Auf der anderen Seite waren die Wände mit gelben, rotbraun gemusterten Stofftapeten bespannt. Ihre bloßen Füße versanken in einem dicken, weichen Teppich von dunkelbrauner Farbe. Die Beleuchtung erzeugte vielfache Schatten. Mischa war allein.
    Der Korridor bog nach rechts, und Mischa bewegte sich nahe der Wand weiter, bis sie nach ungefähr dreißig Schritten zu einer dreifachen Gabelung des Korridors kam. Die seitlichen Abzweigungen führten fast rechtwinklig nach links und rechts. Mischa folgte dem Mittelgang, der sich in einen langen Speiseraum öffnete. Seine Vorhänge und Stofftapeten waren mit metallischen Fäden bestickt; kleine Beleuchtungskörper an den Wänden warfen gestreifte Schatten und weckten die zahllosen geschliffenen Prismen der kristallenen Kronleuchter bei jedem Schritt zu funkelndem Leben. Polster umgaben eine niedrige, schimmernde Tafel aus poliertem Holz.
    Die Wandbespannungen und Vorhänge schluckten jedes Geräusch, was auf jemand, der die hallenden Echos der Höhlen gewohnt war, desorientierend wirkte. Mischa bewegte sich vorsichtig zum anderen Ende des Raumes, fünf Stufen hinauf und durch die schweren Vorhänge eines weiteren Durchgangs. Sie passierte dreißig Meter Wandteppiche mit üppigen mythologischen Szenen, deren

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