Die Asche der Erde
berücksichtigen. Hikaru hatte nicht recht gewußt, was er erwarten sollte. Ihr Verhalten ließ auf ein gehöriges Maß an angeborenem Mut und Scharfsinn schließen; und wenn ihre Unkenntnis von Dingen, die er für elementar hielt, ihn befremdet hatte, so fühlte er sich durch das Hervortreten ihres scharfen und rasch auffassenden Intellekts reichlich entschädigt.
Ihr Gespräch fand erst ein Ende, als sie beinahe gleichzeitig erkannten, daß sie sich heiser geredet hatten. Mischa sagte etwas, das wie ein Krächzen herauskam. Beide räusperten sich, sahen einander an und mußten lachen. Wenn Mischa auch selten lachte, so war es doch ein befreiendes Lachen, das Hikaru gefiel.
»Hast du Hunger?«
»Ja«, sagte sie sofort. »Ja, wirklich. Gehen wir.«
Es war ziemlich spät; sie waren die einzigen Tischgäste im Speisesaal.
»Du begreifst rasch«, sagte er beim Einschenken des Tees. »Trotzdem sind solche Gespräche immer ermüdend. Ich weiß nicht, wie es um dich steht, aber ich könnte schon wieder schlafen.«
»Sie sehen nicht so müde aus wie gestern abend. Oder heute früh.«
Er zuckte die Achseln. »Es ist eine andere Art von Müdigkeit«, meinte er. »Eine bessere.« Er lehnte sich zurück und blickte zur rohbehauenen Gesteinsdecke auf. »In der Sphäre denkt niemand mehr an die Erde. Sie ist beinahe ganz aus dem Blickfeld gerückt, und so ist es ein unerwarteter Schock, wenn man hierherkommt und einen Ort besucht, den man immer für tot gehalten hatte.«
»Nein, die Erde ist nicht tot«, sagte Mischa, »aber sie liegt im Sterben. Und das ist schlimmer.«
»Ich muß ein Bad nehmen«, sagte er beim Aufstehen. »Willst du mitkommen?«
»Klar.«
Die Entdeckung eines Dampfbades japanischer Art im Palast war für Hikaru eine erfreuliche Überraschung gewesen. Er hatte viele Jahre in Ausbildungsstätten und Institutionen zugebracht und an Orten gelebt, wo bescheidene Duschen die einzigen Badeeinrichtungen gewesen waren, so daß er sich fast damit abgefunden hatte, für immer auf den Luxus des Einweichens in einer Badewanne mit heißem Wasser zu verzichten. In vielen der billigen und manchmal schmutzigen Zimmer, in denen er gehaust hatte, hatte es überhaupt kein Wasser gegeben, und er hatte öffentliche Bäder aufsuchen müssen, um sich sauberzuhalten.
Im dampfenden Halbdunkel der Badegrotte angelangt, legten sie ihre Kleider ab, seiften sich ein, duschten und stiegen in das vertiefte Becken, das unregelmäßig wie ein natürliches Reservoir aus dem Fels geschlagen war. Mischa war noch magerer, als er gedacht hatte. Ihr linker Unterarm war von einer tiefen alten Narbe gezeichnet, und eine neuere zog sich über ihre Rippen. Er hätte sie gern über die Herkunft der Narben befragt, wußte jedoch nicht, wie er es anstellen sollte, ohne taktlos zu sein. Er legte sich auf den Rücken und ließ sich treiben. Das Wasser füllte seine Ohren, und er konnte die leisen Geräusche der Zirkulation hören, das Plätschern kleiner Wellen an den Beckenrändern, seine eigenen Herzschläge. Die Wärme des Wassers drang in ihn ein und erzeugte ein Gefühl angenehmer Erschlaffung.
»Darf ich Sie was fragen?«
»Das sollst du«, sagte er. »Meine Aufgabe ist es, Fragen zu beantworten.«
»Von wo sind Sie?«
Er hob den Kopf, um nach ihr zu sehen, und erschrak für einen Augenblick durch die Illusion, daß ihre Augen wie diejenigen einer Katze das Licht reflektierten. Er schüttelte das Wasser aus seinem Gesicht und sah nochmals hin, und nun schienen Mischas Augen im schwachen Licht einfach schwarz zu sein.
»Ich komme von einem Planeten, der Koen genannt wird«, sagte er. »Es ist dort sehr schön.« Schon der Name bedeutet ›Park‹, und nahezu die ganze Welt war parkähnlich. Aus der Erinnerung schilderte er die natürliche Schönheit der Welt und ihre Bewohner. Sie war von Leuten kolonisiert worden, die sich seit Jahrhunderten dem Land und der Natur verbunden fühlten; sie kamen nicht als Ausbeuter, die ihre neue Erde zugrunde richteten, sondern als Erhalter, die immer bestrebt waren, sich in die natürlichen Kreisläufe einzufügen und der Welt niemals mehr zu entnehmen, als nachwachsen konnte. Aber die Welt war in mancherlei Hinsicht zu angenehm, das Leben zu leicht; sie bot keine hinreichende Herausforderung, und die Bewohner neigten zu genießerischer Beschaulichkeit und widmeten sich allzusehr den kleinen Dingen des Lebens. »Mein Vater verbrachte einen großen Teil seiner Zeit mit Versuchen, Bonsai-Bäume zu
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