Die Asche der Erde
Isolation. Er betrachtete sich selbst distanziert, registrierte mit kritischer Aufmerksamkeit seine in letzter Zeit erworbene Fähigkeit, die Zeit totzuschlagen, seine Unschlüssigkeit. Er war nicht zufrieden mit sich. Er hatte nichts, was ihn beschäftigte und womit er die langen Stunden bis zur Schlafenszeit ausfüllen konnte. Selbst die Unterrichtsstunden mit Mischa waren ihm lästig, wenngleich sie noch am ehesten geeignet waren, einen Funken von Interesse in ihm zu wecken. Und Mischa konnte ihm etwas über die Stadt erzählen oder ihm die Bekanntschaft von jemandem vermitteln, der sich in allen Aspekten dieses menschlichen Termitenbaues auskannte.
Es war noch früh, als er aufstand, sich flüchtig wusch und anzog. In seiner Depression hatte er sogar aufgehört, sich zu rasieren, und so wuchs ihm allmählich ein rötlichblonder Stoppelbart. In früherer Zeit hatte er den Bart nie wachsen lassen. Sein Vater hatte es fertiggebracht, sich mit Jans blondem Haar abzufinden oder es wenigstens zu ignorieren, aber Jan hatte immer das Gefühl gehabt, daß es eine grausame Zumutung gewesen wäre, dem Vater einen rötlichen Bart vorzuführen.
Als es Zeit war, verließ er seinen Raum, überquerte den Korridor und stand zögernd vor Mischas Quartier. Wie ihm jetzt überraschend klar wurde, hatte er seit seiner Ankunft nie aus eigenem Antrieb einen fremden Raum betreten, und so war ihm bisher nicht aufgefallen, daß es keine Gelegenheit gab zu klopfen.
Er legte den Kopf an den Vorhang und sagte, um sie nicht aus etwaigem Schlaf aufzustören, mit halblauter Stimme: »Bist du wach?«
Er vernahm undeutliche Geräusche, das Rascheln von Bettzeug und dann ihre Stimme, die ihm sagte, daß sie in einer Minute fertig sei.
Als sie wenig später den Vorhang zurückzog, hatte er Gelegenheit, sie eingehender zu betrachten. Ihre dunkle Hose und die zugehörige Jacke waren abgetragen, an Knöcheln und Handgelenken zu kurz, und kamen in der Mitte nicht ganz zusammen, außer wenn sie still stand. Sie war barfuß und reichte ihm nur bis zur Schulter, doch machte sie bei aller Magerkeit keinen zerbrechlichen Eindruck. Sie war nicht schön, aber ihre Gesichtszüge zeigten Ebenmäßigkeit und Kraft. Sie hatte abgekaute Nägel, und ihre Handgelenke waren von unschönen, schwielig vortretenden Narben entstellt.
Sie betrachtete ihn mit einiger Vorsicht, und angesichts dessen, was er über ihre Vorgeschichte gehört hatte, mochte es nicht überraschend sein, daß sie ihrer Umwelt mit Mißtrauen gegenüberstand. Ihre Augen waren von einem faszinierenden Grün, und er ertappte sich dabei, daß er sie anstarrte. Zugleich bemerkte er, daß sie seinem Blick nicht auswich und daß sie nicht angestarrt sein mochte. Verlegen wandte er den Blick von ihr und sah auf seine Uhr. »Möchtest du Frühstück?«
»Klar.«
Der Korridor lag verlassen, doch als sie in den Speisesaal kamen, sahen sie mehrere von Subzweis Leuten, die sich dort bereits eingefunden hatten. Hikaru wählte einen Tisch auf der anderen Seite des Raumes, ein gutes Stück von ihnen entfernt. Sie blickten nur auf, als er hereinkam, danach schenkten sie ihm keine Aufmerksamkeit mehr. Ihr gelegentliches Gelächter drang herüber, und ihre halberheiterten Bemerkungen über den Palast, seine Bewohner und das Essen.
»Sie gehören nicht zu diesen Leuten, nicht wahr?« Spannung und Mißtrauen waren aus ihrer Stimme gewichen.
»Nein«, antwortete er. »Ich habe nichts mit ihnen zu tun.« Es war seine eigene Wahl gewesen; sie hatten ihn nicht ausgeschlossen. Er hatte sich selbst isoliert, war allen persönlichen Beziehungen ausgewichen. Oder vielleicht hatte er sie nicht bewußt gemieden, sondern war einfach blind für sie gewesen.
Er zeigte Mischa, wo man Essen und Trinken bekommen konnte. Eine provisorisch eingebaute Theke mit Ausgabeschaltern für Speisen und Getränke verlieh dem Ganzen das Aussehen einer Kantine, über deren Betrieb der Schiffskoch wachte. Mitglieder der Besatzung verwalteten unter seiner Regie die durch einheimische Lebensmittel gestreckten Bordvorräte und besorgten die Essensausgabe. Subzwei duldete keine Sklavenarbeit in den Räumen, die ihm und der Besatzung zugewiesen waren. Hikaru war ihm dankbar dafür; er war noch nicht bereit, der Situation gegenüberzutreten, in der er sich fand.
Die nervöse Spannung, die er in Mischas Haltung und Bewegungen bemerkt hatte, begann sich ein wenig zu lockern. Sie kostete vom Kaffee, der ihr nicht zusagte, und begnügte sich mit
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