Die Asche der Erde
begriff, daß er selbst es war, der Ermutigung nötig hatte, Zuspruch und Ermutigung angesichts des langsamen Zerfalls seiner Vorstellungen von Menschenrechten und Menschenwürde. Er merkte, daß Mischa ihn beobachtete. In ihren grünen Augen war so etwas wie Verstehen.
»Das ist vorbei«, sagte sie. »Machen Sie sich nichts daraus. Das ist alles vorbei.«
Als Mischa barfuß durch den Korridor zurücktrottete, eingehüllt in das weiche Badetuch, ihre Kleider unter dem Arm, überkam sie eine wohlige Schläfrigkeit. Sie war zufriedener, als sie es seit langem gewesen war, und überließ sich den angenehmen Empfindungen um so bereitwilliger, als sie sich dem Ziel ihrer Wünsche nahe sah. Mit dieser einen Chance konnte sie beweisen, daß ihre Ausbildung sich lohnte. Sie mußte sich anstrengen und lernen, das war die Hauptsache; verglichen damit, würde es ein leichtes sein, sich bei Subzwei für Chris zu verwenden, daß sie ihn mitkommen ließen.
Vor ihrem Raum angelangt, wollte sie sich von Jan Hikaru verabschieden, spürte aber, daß er etwas auf dem Herzen hatte. Seine sonst so undurchdringliche innere Ruhe schien spröde und zerbrechlich. Mischa konnte nur kurze, gebrochene Ausstrahlungen seiner aufgestörten Emotionen auffangen, und die Lücken in seiner Verteidigung begannen sich schon wieder zu schließen und verbargen ihn vor ihr. Dennoch hatte Mischa genug gefühlt und gesehen, um zu wissen, daß er trotz seiner scheinbaren Unverwundbarkeit und Selbstgenügsamkeit besorgt war.
Er blickte zu ihr herüber. »Möchtest du Tee?«
Sie mochte nicht sehr; der Aufenthalt im heißen Badebecken hatte sie entspannt und ermüdet, aber sie nahm an und folgte ihm hinein. Schweigend bereitete er den Tee und ergriff erst wieder das Wort, als er Mischa die Tasse gereicht hatte.
»Was geschieht, wenn jemand im Zentrum stirbt?«
Seine Frage war ihr nicht ganz klar, aber Mischa brachte sie mit dem in Verbindung, was er über seine Trauer gesagt hatte. »Die Toten werden von ihren Hinterbliebenen dem Fluß übergeben.«
»Gibt es ein Ritual, ein Totengedenken oder jemanden, der so etwas veranstaltet?«
»Nein. Nichts dergleichen.«
»Werden Särge verwendet?«
»Die Leute hüllen ihre Toten in Leichentücher, wenn sie sich das leisten können.«
Er legte die Fingerspitzen zusammen und starrte zu Boden. »Ich versprach meiner Freundin, daß ich ihren Körper auf der Erde bestatten würde. Kannst du mir zeigen, wo die Toten dem Fluß übergeben werden?«
Sie nickte.
Draußen im Blockhaus, vor den Regalen, wo die in ihren Helmen zusammengelegten Anzüge verwahrt wurden, sah Mischa zu, wie Hikaru sich für den Gang ins Freie ankleidete. Der Wind seufzte um das Blockhaus, und sie hörte den Sand rieseln. »Ich würde gern mitkommen«, sagte sie nach einem mißglückten Versuch, ihre Ungeduld zu unterdrücken.
Hikaru schien im Begriff, abwehrende Bemerkungen über schlechte Wetterbedingungen und Unbequemlichkeiten zu machen, sagte aber nichts und durchsuchte die Reihe der Anzüge, bis er einen kleinen fand. Mischa legte ihn an, wobei sie die Bewegungen nachahmte, die sie zuvor bei ihm gesehen hatte. Der Anzug war für einen volleren Körper geschnitten, erwies sich aber gerade durch den lockeren Sitz als bequem.
Hikaru wartete, bis sie fertig war, und drückte einen Knopf. Das Knirschen der Tür in ihren Metallschienen wurde vom ungedämpften Heulen des Sturms ausgelöscht, und die Luft um sie her füllte sich mit feinem Staub und Sand. Hikaru stapfte unbekümmert hinaus; Mischa zögerte in der Türöffnung und starrte besorgt in die wirbelnde Dunkelheit. Sie hatte den Sturm noch nie mit eigenen Augen gesehen. Die Luft war bräunlichschwarz und undurchsichtig, hier und dort durchschossen von lichteren farbigen Streifen, die nach jedem Erscheinen rasch wieder verblaßten und deren Natur ihr verborgen blieb. Vielleicht waren es Spiegelungen in der Scheibe ihres Helms, vielleicht Auflockerungserscheinungen des Sturms.
»Komm schon!«
Sie fuhr erschrocken zusammen, so nahe an ihrem Ohr erklang seine Stimme. Dann erst sah sie das kleine Mikrofon vor ihrem Mund und lächelte über sich selbst. Sie überwand ihre Furcht vor dem Ungewissen und trat aus der Türöffnung des Blockhauses ins Freie, wo der Wind sie sofort mit voller Gewalt anfiel. Sie keuchte entsetzt, taumelte und fühlte Hikarus stützenden Arm. Die Gewalt des Sturmwinds war eine völlig neue Erfahrung für sie. Hikaru hielt einen Kontaktschlüssel gegen
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