Die Asche der Erde
hastigen Dank zu, nahm die Lampe an sich und zog Mischa hinaus in den Stollen.
Im bläulichen Schein der Lichtzellen, allein mit Chris, begann Kiri bald ihre Lampe zu vermissen. Wie zahlreiche andere Bewohner der unterirdischen Stadt hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, eine Karbidlampe bei sich zu tragen, seit es in den letzten Jahren mit zunehmender Häufigkeit zu Ausfällen der Stromversorgung gekommen war. Die Schüssel mit den Lichtzellen schien ihr ein höchst unzureichender Ersatz für die strahlende Helligkeit der vertrauten Lampe.
Nur Chris' Gesicht war noch frei von dem schwarzen Überzug. Kiri hinkte zu ihm, bückte sich und berührte mit zarten Fingerspitzen seine glatte, kalte Wange. In all den Jahren ihrer Bekanntschaft war seine Lebenskraft stark und sein Leben ein Fest gewesen. Jetzt, ausgezehrt und fahl, ein vom Leben fast verlassener Körper, war er ihr sowenig kenntlich wie sie sich selbst; in ihren Gedanken war sie kein jämmerliches Geschöpf, das humpelte, statt zu laufen, das ihr von reflektierenden Oberflächen, die sie nicht vermeiden konnte, abstoßend entgegenstarrte. Sie legte die Fingerspitzen an seine Schläfe und fühlte nach seinem Puls. Die einzige Wahrnehmung war die von Kälte, als der Überzug seinem Körper den letzten Rest Energie entzog. Der unaufhaltsam sich ausbreitende schwarze Belag schob ihre Finger langsam, beinahe unmerklich, über seine Stirn. Kiri vermochte nicht zu sagen, ob Chris tot war, oder ob tief in seinem Inneren noch ein Funke von Leben glomm. Schließlich war es gleich; wichtig war, daß Mischa unversehrt hatte entkommen können.
Kiri erhob sich vom Lager und schaute Chris nicht mehr an, Vor Jahren hatte sie eine solche Umschließung beobachtet, und jeder Augenblick des Prozesses hatte in ihren Träumen vielfache Wiederholung erfahren. Und nun mußte sie es noch einmal sehen, als gelte es, ihre Erinnerungen aufzufrischen. Obgleich sie mit dem schmatzenden Geräusch gerechnet und es erwartet hatte, schrak sie zusammen, als es kam. Die Umhüllung schieb sich über Chris' Augen. Die Echos des Endes verhallten; Kiris Pflicht war erfüllt. Chris lag eingehüllt im Halbdunkel der Höhle, und sie konnte nichts mehr tun.
Sie verließ die Nische, ohne sich umzusehen. Als sie müde durch den Radialstollen zum Zentrum zurückhumpelte, begegnete ihr der erste Suchtrupp. Die meisten seiner Mitglieder hatten sich mit Lampen ausgerüstet, ein paar waren bewaffnet, aber niemand schien daran gedacht zu haben, sich mit Proviant zu versehen. Angetrieben nur von ihrem Verlangen, die ausgeschriebene Belohnung zu gewinnen, würden sie sich nicht weit in den Untergrund wagen. Kiri meinte nicht, daß Mischa und ihr Begleiter viel von ihnen zu fürchten hatten; und sie bezweifelte, daß die Fremden vom Schiff Lust verspürten, sich in den dunklen Labyrinthen der Tiefe zu verlieren. Erst wenn ihre Anführer kämen, um selbst die Suche zu leiten, würde die Gefahr real sein.
Die letzten Lampen der Stollenbeleuchtung blieben zurück; die natürlichen Höhlengänge führten weiter abwärts, verzweigten und verengten sich, da und dort notdürftig verbreitert, um einen Durchlaß zu schaffen.
Jan ging mit der Lampe voran, bestrebt, einen möglichst geraden Kurs zu halten. Wenn sie abschüssige und schlüpfrige Stellen passierten oder sich auf schmalen Leisten an den Rändern tiefer Auswaschungen entlangtasten mußten, gab er Mischa die Hand, um ihr weiterzuhelfen. Sie sprach und reagierte nicht, schien kaum zu sehen, wohin er sie führte. Zuweilen waren sie von fernen Echos umgeben, die aus den natürlichen Gängen der weitverzweigten Kalkhöhlen zu ihnen drangen: verzerrte Geräusche von plätscherndem Wasser, säuselnden Luftströmungen, fernen Stimmen und Tritten ihrer Verfolger.
Schließlich mußten sie ausruhen.
Mischa wurde unruhig, schlug die Augen auf und blinzelte ins grelle Licht der Karbidlampe. Sie wandte den Kopf und blickte in seine schwarzen Augen auf, die in einem so eigenartigen Kontrast zu seinem blonden Haar standen. Sein Gesicht war staubig, und die offene Jacke zeigte dunkle Schweißflecken unter den Achseln.
»Fühlst du dich etwas besser?«
Sie fühlte die Schwere in den Gliedern, sah sich um und erkannte den Ort, wo sie lagerten. Sie waren weit in den tiefen Untergrund vorgedrungen, doch machte Mischa sich nichts daraus. Sie befand sich in einem Zustand tiefer Gleichgültigkeit. Als er seine Frage wiederholte, murmelte sie etwas, was nicht
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