Die Asche der Erde
helfen, zu sterben«, sagte sie endlich. In stummer Betroffenheit überließ er ihr die Kugel.
Mischa schlug die Decke zurück. Chris murmelte unzusammenhängende Worte, verstrickt in unbekannte Fieberträume. Sie war froh, daß er nicht wach war und nicht sehen konnte, was sie tat. Er sollte nicht wissen, daß er starb. Sie fühlte, wie die Träume allmählich verblaßten und sich auflösten, als er schwächer wurde; die Droge hatte ihn in den Zustand versetzt, den er gesucht hatte, wollte ihn aber noch nicht ruhen lassen. Sie zog den geschwärzten und geschmolzenen Rand seines Hemdes von der Bandage zurück und schnitt den Stoff mit dem Messer auf, bis Chris' Oberkörper entblößt war. Sie legte die schwarze Kugel in die Höhlung seines Brustbeins, unweit vom Rand der Wunde. Jan glaubte die Kugel erzittern zu sehen, als sie den Körper berührte, und plötzlich zersprang sie mit einem scharfen, hohen Ton. Selbst Mischa, die diese Reaktion erwartet hatte, zuckte zusammen und riß die Hand vors Gesicht, doch nichts berührte sie; was immer die Kugel getan hatte, sie war nicht explodiert. Eine schwarze Flüssigkeit breitete sich langsam über Chris' Brustkorb aus, floß unter die Bandage, die sich kräuselte und auflöste.
»Großer Gott«, flüsterte Jan. Die sich ausbreitende und zu einer Art Schale verfestigende Flüssigkeit erreichte Chris' Kehle, wo sie zum Stillstand kam. Auf der anderen Seite kroch sie über seinen Leib bis zu den Schenkeln. Hemd und Hose lösten sich in aschenähnliche Flocken auf, zerfielen.
»Was ist es?«
»Es – nimmt den Schmerz«, sagte Mischa. »Ich habe es noch nie gesehen, nur davon gehört.«
»Ich habe in meinem Leben nichts dergleichen gesehen.«
Mischa streckte die Hand aus und berührte die langsam expandierende glänzende Schicht. Sie war sehr kalt, und ihre Fingerspitzen waren feucht von kondensiertem Wasser. Endlich um-schloß die schwarze Schale Chris' ganzen Rumpf und bewegte sich langsam mit seinem Atmen. »In der Sphäre«, sagte sie. »Hätte man ihn dort retten können?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er nach kurzem Zögern. »Vielleicht, wenn man ihn gleich behandelt und operiert hätte.«
»Ich fühle, wie es ihn betäubt. Zuvor litt er große Schmerzen, doch nun fühlt er nichts mehr ...« Sie brach ab, als sie bemerkte, daß Chris wieder zum Bewußtsein erwachte. Sie legte die Hand an sein Gesicht, ihn zu trösten, und wurde zu einem mitschwingenden Resonanzkörper für seine Echos.
»Mischa?«
»Ja, Chris.«
Er wollte sie mit der rechten Hand berühren, aber die Muskeln waren betäubt. Er entspannte sich und lag still, verausgabte seine ganze Energie für das Atmen. Mischa nahm ihre Hand von seinem Gesicht, ergriff seine Linke und hielt sie mit sanftem Druck. Er hob ein wenig den Kopf, blickte an sich hinab und sah die Schwärze. Seine Pupillen weiteten sich ein wenig, dann ließ er den Kopf zurücksinken und schloß die Augen. »Lieber Gott!« Rosa Schaum trat ihm auf die Lippen. »Was wird geschehen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Mischa. »Ich habe es noch nie miterlebt.«
»Es ängstigt Gemmi.«
»Ja.« Chris verstummte, und Mischa zerbrach sich den Kopf, um ermutigende Worte zu finden. »Alles Unbekannte ängstigt sie. Sie kann Gutes nicht von Schlechtem unterscheiden.«
Chris versuchte zu lächeln, aber die Fähigkeit dazu war ihm abhanden gekommen. Auch Mischa spürte, wie ihre tapfere Fassade bröckelte. »Das stimmt«, murmelte Chris. »Ich ... ich weiß das ...«
Um nicht aussprechen zu müssen, was ihr in der Seele brannte, suchte Mischa Zuflucht bei einer Banalität und sagte: »Versuch ein wenig zu schlafen.«
»Mischa ...« Seine Hand erwiderte ihren Druck in einem matten Aufflackern seiner alten Kraft. »Ich wollte mit dir gehen.« Er schloß die Augen, und es verging eine Weile, ehe er einen neuen Anlauf nahm. »Nichts lief so, wie es sollte. Es tut mir leid.«
»Du solltest nicht so reden.« Sie hatten Streitigkeiten miteinander gehabt, nie aber hatte es Vorwürfe gegeben. Das war die Ehre zwischen ihnen, daß sie letzten Endes nur für sich selbst verantwortlich waren.
Chris nickte und ruhte aus. Mischa fühlte Tränen über ihre Wangen rinnen und wurde sich bewußt, daß Hikaru noch immer da war, ein stummer Beobachter. »Verdammt«, murmelte sie. »Ich weine nie.«
Er legte ihr seine Hand auf die Schulter. Sie versteifte sich.
»Du brauchst dich deiner Tränen nicht zu schämen«, sagte er. »Niemand kann sie
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