Die Asche der Erde
einmal sie verstand.
»Macht nichts«, sagte Jan. »Schlaf noch ein wenig.«
Mischa fuhr bolzengerade auf, schreiend, gefangen inmitten der Zertrümmerung. Sie sah die Höhle und Jan im Lampenschein, und seine ruhige, vollständige Gegenwart brachte sie zur Besinnung.
»Staub«, flüsterte sie.
»Was?«
»Staub. Es war, als verwandle er sich in Staub. Er konnte nirgendwo hin. Es ist nichts von ihm übrig ...« Unvertraute Spannungen bauten sich in ihr auf, verschlossen ihr die Kehle, trübten die Sicht, und sie hatte keine Kraft, ihnen zu widerstehen. Ihr Gesicht war naß.
»Es tut noch lange weh«, sagte Jan schließlich, »aber der Schmerz läßt allmählich nach.«
Mit festem Griff seinen Arm umklammernd, schlief sie wieder ein.
Mischa fühlte sich aus tiefem und traumlosem Schlaf gerüttelt. Sie fühlte sich nicht mehr müde, aber lethargisch, verloren und stumpfsinnig.
»Ich glaube, es ist Zeit.«
Sie rieb sich die Augen und blickte zu ihm auf. Seine Wange war gerötet und zeigte den Abdruck seines Armes, den er als Kissen benutzt hatte. Das Licht warf Schatten um ihn und glänzte auf dem feinen goldenen Flaum seiner Handrücken. Sie zwinkerte, doch die Bedeutung seiner Worte entging ihr. Er nahm sie bei der Hand und half ihr auf. Sie widerstand nicht.
Sie setzten ihre scheinbar endlose Wanderung ins Innere des Kalkmassivs fort.
Er folgte dem Lichtkegel der Karbidlampe, die willenlos hinter ihm einherstolpernde Mischa an der Hand. Immer mehr wurde ihm bewußt, welchen Dank er Kiri schuldete; ohne ihr Licht wäre er vollständig hilflos gewesen, verloren im unwegsamen Höhlenlabyrinth. Mischa schenkte weder ihm noch ihrer Umgebung irgendwelche Beachtung. Hatte er sich zuerst gefreut, daß sie den Tod ihres Bruders überlebt hatte, so sorgte er sich jetzt, ob sie ihn in geistiger Gesundheit überlebt hatte.
Die Höhlen waren schön in der Vielfalt ihrer Formen, Größen und Gliederungen, doch zogen im Verlauf der Stunden so viele Variationen des gleichen Themas an ihnen vorüber, aus der Dunkelheit für Sekunden im schwankenden Lichtkegel auftauchend, um gleich darauf wieder in Schwärze zu versinken, daß seine Sinne immer mehr abstumpften. Er mußte sich zwingen, nach etwaigen Geräuschen von Verfolgern zu lauschen; dann, wenn er sich konzentrierte, begann seine Wahrnehmung ihm mit den Echos ihrer eigenen Schritte und ihrem Atem Streiche zu spielen, bis er sich von lauernden Spähern aus der unterirdischen Stadt umringt wähnte. Da seine Uhr stehengeblieben war, hatte er keine Möglichkeit, die Stunden zu zählen. Er grübelte lang über die Frage nach, was er hätte tun können, um zu verhindern, was geschehen war, kam jedoch zu keinem Ergebnis als dem, daß er sich auf die unmittelbare Vergangenheit und die Erinnerung an sie zurückgeworfen sah, die er zu meiden suchte.
Die religiösen Rituale, die im Haus seines Vaters beobachtet worden waren, hatten den Zweck gehabt, die Selbsttäuschung des alten Mannes aufrechtzuerhalten. Sie hatten Jan niemals etwas bedeutet, noch hatte er je einen Glauben gefunden, der ihm paßte. Und obgleich er keine bewußte Entscheidung getroffen hatte, an nichts mehr zu glauben, war jetzt mit dem Unglauben leichter zu leben. Die Worte, die Mischa nach dem Erwachen aus ihrem Alptraum gemurmelt hatte, wollten ihm nicht aus dem Kopf. Ganze Philosophien waren auf weniger errichtet worden. Er mußte sich ermahnen, nicht allzu ernst zu nehmen, was sie inmitten von Erschöpfung, Alptraum und Kummer gesagt hatte, konnte aber nicht umhin, über ihre mögliche Bedeutung nachzusinnen. Er konnte nirgendwo hin ... Aber vielleicht war sie nicht in der Lage gewesen, Chris weit genug zu folgen, um zu wissen, was nach seinem Tode geschehen war.
Vielleicht waren diese Grübeleien nur ein Versuch, sich angesichts der Ewigkeit und Unendlichkeit zu trösten. Es war nicht, was er wollte: Zerfall und Zerstörung anstelle von Rechtfertigung oder Bestätigung. Doch wenn er nicht anfangen wollte, unangenehme Informationen zu unterdrücken, mußte er die Möglichkeit gelten lassen, daß alle Religionen und Philosophien falsch waren: daß es kein Leben nach dem Tode gab, keine Bestrafung im schrecklichen Höllenfeuer, keine ewige Seligkeit im Himmel, nicht einmal das losgelöste Bewußtsein im Nirwana. Einfach und endgültig nichts. Er blickte zu Mischa, die sich ausdruckslos und ohne Verstehen dahinbewegte, und fragte sich, ob man verstehen könne, was sie gesehen hatte, ohne in
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