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Die Astronauten

Die Astronauten

Titel: Die Astronauten
Autoren: Stanislaw Lem
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hervorgerufen wurde, dauerte nur kurze Zeit. Dann erlangte der Körper wieder seine normale Schwere. Als Soltyk zu uns zurückgekehrt war, konnte Rainer endlich mit seiner Erzählung beginnen.
    »Ich weiß nicht, ob meine Geschichte Sie interessieren wird. Es ist eine ziemlich eigenartige und sonderbare Geschichte. Ich könnte sie ›Polymere‹ benennen – ein ziemlich abschreckender Titel, nicht wahr?« wandte er sich mit einem schüchternen Lächeln, das ihn mir gleich sympathisch machte, an uns. »Ich lebte damals in dem alten Hafenviertel Hamburgs. Ich war Doktorand und übernahm das Laboratorium für organische Synthese bei meinem Lehrer, dem Professor Hummel. Ungefähr ein Jahr vorher hatte dieses Laboratorium an der Synthese des Siliziumgummis gearbeitet, einer Gummiart, in der die Kohlenstoffatome durch Silizium ersetzt werden. Die Flugzeugindustrie hatte alle ihre chemischen Institute zu dieser Forschungsarbeit verpflichtet; denn von der Schaffung dieses Gummis hing die Zukunft der Luftfahrt ab. Wie Ihnen allen bekannt ist, landen die modernen Flugzeuge mit einer derartigen Geschwindigkeit, daß Reifen aus gewöhnlichem Gummi infolge der Reibung auseinanderfliegen oder infolge der entstehenden Wärme verbrennen würden. Der Theorie nach sollte der Siliziumgummi unempfindlich gegen derartige Höchsttemperaturen sein. Wenn es nicht gelang, diesen Gummi herzustellen, so mußten die Konstrukteure alle bestehenden Systeme von Fahrgestellen verwerfen.
    Als ich in das Institut kam, hielt man die Sache bereits für aussichtslos. Man hatte riesige Summen verausgabt, Unmengen von Reagenzien verbraucht, eine große Anzahl von Spezialapparaten vernichtet und Dutzende von Berichten geschrieben – ohne das geringste Resultat. Auf dem Papier sah alles sehr schön aus; aber in der Praxis kam nichts dabei heraus. Meine erste Aufgabe war, das Laboratorium in Ordnung zu bringen und es für Arbeiten auf einem anderen Gebiet vorzubereiten.Ganze Wochen schuftete ich mit den Studenten zusammen als Ausfeger, um diesen Augiasstall zu säubern. Ihr könnt euch vorstellen, was sich dort alles zugetragen hatte, wenn ich erwähne, daß das gesamte wissenschaftliche Personal die letzten Monate über fast gar nicht aus dem Laboratorium herausgekommen war und drei meiner älteren Kollegen, Jaensch, Hoeller und Braun, einfach dort wohnten. Sie hinterließen riesige Stöße morscher, verkohlter oder angebrannter Gummiproben, Hunderte zerschlagener Kolben, viele Kilometer plastischen Bands, und noch einen Monat nach der Übernahme des Laboratoriums konnte es vorkommen, daß wir unter irgendeinem Schrank oder in einem Thermostat wahre Lager dieses unglückseligen Gummis entdeckten.
    Ich selbst steckte, wie man so sagt, bis über die Ohren in den Polymeren; aber sie interessierten mich mehr vom theoretischen Gesichtspunkt aus. Es handelt sich, wie Sie ja alle wissen, um Stoffe, die durch die Zusammenlagerung einer großen Anzahl chemisch gleicher Teilchen gebildet werden. Auf diese Weise entstehen Moleküle gigantischen Ausmaßes, deren Verhalten man keineswegs auf Grund der Kenntnisse über die ursprünglichen Teilchen voraussagen kann.
    Mir ging es um bestimmte Forschungen über das Polyisobutylen und Polystyren, auch über den gewöhnlichen Gummi, der wohl das bekannteste Polymer ist. Ich wollte eine Theorie des Verhaltens aller Polymere schaffen. Vielleicht rechtfertigt mich der Umstand, daß ich damals erst vierundzwanzig Jahre alt war. In diesem Alter schießen dem Menschen nach dem Lesen einer wissenschaftlichen Arbeit die Möglichkeiten von Entdeckungen wie ein Feuerwerk durch den Kopf. Schon bevor ich ins Laboratorium kam, umgab ich mich mit Fachliteratur, und langsam begann ich, ohne recht zu bemerken wie, darin zu versinken. Ich sammelte Fakten auf kleinen quadratischen Kärtchen, die ich zuerst in Zigarettenschachteln, dann in besonderen Ordnern, dann in Schubfächern, auf Regalen, auf Tischen ablegte – und schließlich war das ganze Zimmer voll von diesen Karten, in denen ich mich eben noch zurechtfand. Ich ahnte jedoch den Augenblick voraus, da sie mich überfluten würden.
    Indessen war ich von meiner erträumten und heißersehnten Theorie noch immer gleich weit entfernt. Meine geliebten Polymerebenehmen sich auch zu sonderbar! Einige von ihnen verhalten sich in zwei räumlichen Dimensionen wie Flüssigkeiten, in der dritten aber wie feste Körper. Gummi dagegen hat die Eigenschaften eines idealen Gases; denn er kühlt sich
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