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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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drei Jahre bräuchten, bis sie genug Geld zusammen hätten, um endgültig zurückzukehren und sich hier eine Existenz aufzubauen. Doch auch zwei, drei Jahre sind lang, wenn man einsam ist, und so holte, wer irgend konnte, seine Familie nach. Aus zwei, drei Jahren wurden fünf, sechs, zwölf, zwanzig. Kinder wurden in Berlin oder Bern geboren, wuchsen dort auf, sie sprachen lieber Deutsch als Italienisch, kanntenKreuzberg besser als San Vito drüben auf der anderen Seite des Cesano-Tals.
    Immer mehr Häuser in Montesecco standen das Jahr über leer. Man verkaufte sie nicht, denn erstens hätte es sowieso keine Interessenten gegeben, und zweitens würde man ja zurückkehren. Irgendwann. Noch Jahre und Jahrzehnte verbrachte man den Sommerurlaub im Heimatdorf, öffnete die Fenster des Geburtshauses, lüftete die Zimmer durch und ging auf die Piazza, um alte Freunde zu treffen, um Neuigkeiten und Erinnerungen auszutauschen.
    Dann schien alles fast wie früher zu sein, nur dass jedesmal ein bisschen weniger von dem übrig war, was Montesecco ausgemacht hatte. Zuerst wurde die Schule geschlossen. Als Don Igino starb, wurde die Pfarrstelle nicht mehr besetzt. Die ursprünglich drei Läden Monteseccos gaben einer nach dem anderen auf, weil das Geschäft elf Monate im Jahr nicht lohnte, und mit dem Mähdrescher, den Vater und Sohn Lucarelli angeschafft hatten, konnten sie zu zweit erledigen, wozu einst dreißig Erntehelfer angeheuert worden waren.
    Selbst wer hier sein Auskommen hatte, geriet irgendwann ins Grübeln. Unten in Pergola gab es Geschäfte aller Art, einen günstigen Supermarkt, Ärzte, ein Krankenhaus, Schulen, Banken, Restaurants, und wenn man wollte, ging man am Samstagabend mal schnell ins Capitol und sah sich einen Film mit Marcello Mastroianni an. Das Geld, das man brauchte, um die alten Häuser Monteseccos instand zu halten, konnte man genauso gut in die Raten für eine Neubauwohnung im Tal stecken, die wenigstens ordentlich beheizbar war. Wenn der kalte Januarwind durch die Gassen pfiff und man an den verrammelten Häusern längst weggezogener Nachbarn vorbeiging, entschloss sich mancher, den nächsten Winter auch nicht mehr in Montesecco zu verbringen.
    Geblieben waren fünfundzwanzig Menschen, meist verstockte Alte, die sich allen praktischen Erwägungen zumTrotz nicht verpflanzen lassen wollten. Ein paar andere sprachen immer wieder vom Fortgehen, konnten sich aber schlicht nicht aufraffen, den ersten Schritt zu tun. Einzelne waren zufällig hier gestrandet wie Mamadou Thiam, ein Senegalese, der seinen Aufenthalt in Italien durch die Heirat mit der neun Jahre älteren Milena Angiolini legalisiert hatte. Wieder andere meinten, soviel mitgemacht zu haben, dass es für ein paar Leben reichte. An der Steinbrüstung auf der Piazzetta zu stehen und übers Land zu schauen war ihnen Aufregung genug. Wenn jemand sie fragte, was sie in diesem toten Kaff halte, zuckten sie nur die Achseln und dachten, dass alles und jeder irgendwann sterben müsse. Umso besser, wenn Montesecco es schon hinter sich hatte.
    Aber vielleicht stimmte das gar nicht. Vielleicht hatte Montesecco das Schlimmste noch vor sich, und vielleicht würde der Weltuntergang doch mit einem großen Knall eingeleitet werden. Genauer gesagt mit drei gewaltigen Detonationen, die an diesem Vormittag im Januar die Fensterscheiben des ganzen Orts erklirren ließen.
    Zu diesem Zeitpunkt befand sich Franco Marcantoni wie fast jeden Morgen in der Bar an der Piazzetta, um seinen Cappuccino zu schlürfen. Gegenüber Ivan Garzone, dem Wirt, erregte er sich gerade über die Schonzeit für Wildschweine, die am Tag zuvor begonnen hatte. Mit seinen achtzig Jahren ging das verschrumpelte Männchen zwar nicht mehr zur Jagd auf die Felder, er würde jedoch – Schonzeit hin oder her – keineswegs zögern, zur Flinte zu greifen, wenn die Wildschweine in seinen Gemüsegarten unterhalb des Dorfs einbrächen. Die würden nämlich die Beete so gründlich verwüsten, dass das ganze Jahr nichts mehr ordentlich wachsen würde. Jetzt, im Winter, wenn Schnee läge, kämen sie gleich rudelweise aus den Bergtälern, und vielleicht auch, so vermutete Franco, weil sie um die Schonzeit wussten und sie gnadenlos ausnutzten.
    »Das sind Tiere, Franco, die kennen doch keinen Kalender!« Ivan Garzone wischte mit einem Tuch über die Theke.
    »Instinkt! Die spüren das«, trumpfte Franco auf. Er wischte sich den Cappuccinoschaum aus dem weißen Schnauzbart. Das Wildschwein dürfe man

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