Tänzerin der Nacht - Feehan, C: Tänzerin der Nacht - Night Game
1
RAOUL »GATOR« FONTENOT war gerade dabei, sein Hemd in seinen Seesack zu stopfen, als jemand an die Tür klopfte. Die Männer seiner paranormalen Einheit waren nicht so höflich; sie neigten dazu, rund um die Uhr unangemeldet hereinzuplatzen, ob bei Tag oder bei Nacht. Er kannte sie schon lange, und in all der Zeit hatte nie jemand von ihnen an seine Tür geklopft. Und so zaghaft schon gar nicht.
Er hielt eine ausgeblichene Jeans unter seinem Kinn und versuchte, sie planlos zusammenzufalten, während er die Tür aufriss. Dr. Lily Whitney-Miller war die letzte Person, die er erwartet hatte. Seine Truppe – die Schattengänger, wie die Einheit mit den übersinnlichen Veranlagungen oft genannt wurde – hatte ihr Leben Lily zu verdanken. Sie hatte die Männer aus ihren Laborkäfigen gerettet und sie davor bewahrt, der Reihe nach ermordet zu werden. Lily gehörte die Villa mit den achtzig Zimmern, in der sich die Männer häufig aufhielten, aber sie begab sich normalerweise nie in ihren Flügel des Hauses. Sie zog es vor, das Wort an sie als eine geschlossene Einheit zu richten, und das tat sie in den förmlicheren Konferenzräumen.
»Lily! So eine Überraschung.« Er warf einen Blick über seine Schulter auf die Unordnung, die in seinem Schlafzimmer herrschte. »Habe ich eine Sitzung verpasst?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie wirkte ruhig und gefasst. Zurückhaltend. Ganz die gewohnte Lily, aber sie hielt sich betont aufrecht, viel zu steif. Da stimmte etwas nicht. Noch schlimmer war, dass sie seine Blicke mied, denn Lily sah ihrem Gegenüber sonst immer direkt in die Augen.
»Gator, ich muss ungestört mit dir reden.«
Raoul war dazu ausgebildet, auf die kleinste Nuance in einer Stimme zu achten, und aus Lilys Stimme hörte er ein Zögern heraus. Das hatte er bei ihr noch nie gehört. Er schaute an ihr vorbei und rechnete damit, Captain Ryland Miller, ihren Mann, hinter ihr stehen zu sehen. Seine dunklen Augenbrauen schossen in die Höhe, als er sah, dass sie allein gekommen war. »Wo ist Rye?«
Dr. Peter Whitney, Lilys Vater, hatte die Männer, die alle aus verschiedenen Abteilungen der Sondereinheiten kamen, dazu überredet, sich als Freiwillige für ein Experiment zur Steigerung übersinnlicher Fähigkeiten zu melden. Der Arzt hatte ihre natürlichen Filter entfernt und sie damit extrem anfällig für den Ansturm der Gefühle, Geräusche und Gedanken der Menschen in ihrer Umgebung gemacht. Lily war diejenige, die ihnen geholfen hatte, Schutzschilde zu errichten, damit sie in der wirklichen Welt besser zurechtkamen, wenn sie ohne ihre Anker waren. In all diesen Monaten hatte Gator sie nie ohne Ryland gesehen. Er wusste, dass Lily sich wegen der Dinge, die ihr Vater getan hatte, schuldig fühlte und dass ihr in Gegenwart der Männer unbehaglich zumute war, doch in Wirklichkeit war sie ebenso sehr ein Opfer wie die Männer – und nicht einmal eines, das sich freiwillig gemeldet hatte.
Er trat widerstrebend zur Seite, um sie in sein Zimmer
zu lassen. »Tut mir leid, dass es hier so unordentlich ist, ma soeur .« Er ließ die Tür weit offen stehen.
Lily drehte sich mitten im Zimmer zu ihm um; ihre Finger waren eng ineinander geschlungen. »Wie ich sehe, stehst du kurz vor dem Aufbruch.«
»Ich habe Grandmère versprochen, ich käme so bald wie möglich.«
»Dann ist deine Freundin also immer noch als vermisst gemeldet? Das ist ja furchtbar.«
»Ja. Ian hat sich bereit erklärt, mitzukommen und mir bei der Suche zu helfen. Ich weiß nicht, wie nützlich wir sein werden, aber wir tun, was wir können.«
»Glaubst du wirklich nicht, dass dieses Mädchen eine Ausreißerin ist? Die Polizei glaubt das nämlich«, rief ihm Lily ins Gedächtnis zurück. Sie war diejenige gewesen, die ihre Kontakte benutzt hatte, um Gator sämtliche Informationen zu beschaffen. »Ich persönlich habe mir jeden Bericht vorgenommen, den sie über sie hatten. Joy Chiasson, einundzwanzig, ein hübsches Mädchen, hat in den Blues Clubs der Gegend gesungen. Die Polizei glaubt, sie wollte raus aus Louisiana und ist abgehauen. Vielleicht mit einem neuen Mann.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich kenne diese Familie, Lily. Grandmère kennt sie auch. Ich glaube nicht einen Moment lang, dass sie fortgelaufen ist. Vor zwei Jahren ist eine andere Frau verschwunden. Aus einer anderen Gemeinde, und von einer Verbindung ist nichts bekannt. Auch damals glaubte die Polizei, sie sei aus eigenem Antrieb fortgegangen.«
»Aber du glaubst es
Weitere Kostenlose Bücher