Die Augen der Medusa
aber erst damit herausrücken, wenn der Fernseher angestellt und der Ton so laut gedreht würde, dass man von draußen nichts anderes verstehen könne. Er befürchte, dass der Feind mithöre. Ivan tat ihm den Gefallen, doch Angelos Vorschlag erwies sich nach diesen vielversprechenden Vorbereitungen als eher enttäuschend. Er regte eine Gegendarstellung an, in der alle Verzerrungen des Artikels entlarvt würden. Nach dem Presserecht müsse La Voce del Mezzogiorno das abdrucken.
Marisa Curzio bezweifelte, dass dieses Recht ohne anwaltlichen Beistand durchgesetzt werden könne. Einige andere hielten es sogar für kontraproduktiv, die Vorwürfe noch einmal auf den Tisch zu bringen, selbst wenn man sie entkräftete. Etwas bleibe doch immer hängen, und die Diskussion um Montesecco würde dadurch nur neu angefacht. Angelo widersprach, Marisa beharrte darauf, dassein Recht in der Praxis noch lange nicht gelte, nur weil es auf dem Papier stehe, Ivan Garzone sprach sich strikt gegen jede Art der Gegendarstellung aus, worauf Angelo ihn lautstark aufforderte, einen besseren Vorschlag zu machen, und Donato schnappte sich die Fernbedienung. Er schaltete auf seinen Haussender Canale 5 um, in dem bald die Nachrichten beginnen mussten.
Catia Vannoni nickte. Die anderen hatten recht. Man konnte die Sache nicht einfach so weiterlaufen lassen. Nur, dass Catia der Ruf Monteseccos genauso egal war wie die richtige Darstellung längst vergangener Ereignisse. Ihr ging es ums Jetzt. Um ihren Sohn Minh. Und darum, ob er vielleicht noch ein klein wenig Zukunft haben würde. Man musste etwas tun.
Wenn Catia nur mit Minh sprechen könnte! Sie würde ihn überreden, die Geiseln freizulassen und aufzugeben. Sie würde ihm sagen, dass sie ihn mehr als alles andere liebte. Viel zu selten hatte sie ihm das gesagt, aber das würde sie alles nachholen, wenn sich die Möglichkeit dazu noch bieten sollte. Catia blickte um sich. Die anderen stritten wegen irgendwelcher Belanglosigkeiten. Keiner achtete auf sie. Sie zog ihr Handy hervor und wählte Minhs Nummer an.
Sie hatte nicht mitgezählt, aber in den letzten beiden Tagen hatte sie sicher schon fünfzig Mal versucht, Minh zu erreichen. Fünfzig Mal hatte sie auf das Freizeichen gewartet und war dabei überzeugt gewesen, dass Minh spüren müsse, wer am Apparat war. Ich bin es, ich, hatte sie so intensiv wie möglich gedacht und die Finger fest um das Handy gedrückt, als könne sie damit das Signal verstärken. Fünfzig Mal hatte sie dem Tuten gelauscht, fünfzig Mal war ihre Erleichterung, dass Minh nicht abgeschaltet hatte, einer wachsenden Bangigkeit gewichen, einem engen Gefühl in der Brust, das sich ungefähr ab dem sechsten Klingeln langsam aufzulösen begann und nur dumpfe Leere zurückließ. So wie jetzt. Minh antwortete nicht.
Irgendwann nahm Catia das Handy vom Ohr und dachte, dass das nichts zu bedeuten habe. Wahrscheinlich befand sich Minh gerade im Untergeschoss. Vielleicht hörte er das Klingeln nicht, weil auch bei ihm der Fernseher zu laut lief. Oder er musste am Computer etwas Wichtiges erledigen. Hunderte von ganz banalen Gründen waren denkbar, warum er gerade nicht antworten konnte. Catia musste es eben später noch einmal versuchen. In einer halben Stunde. Oder besser in zehn Minuten. Sie steckte das Handy ein.
Plötzlich war in der Bar nur noch eine fremde Stimme zu hören. Catia hatte nicht bemerkt, wann die Diskussion abgebrochen worden war. Erst als sie Marisa Curzio wie gebannt auf den Fernseher in der Ecke starren sah, wurde ihr klar, dass die 17-Uhr-Nachrichten schon liefen. Die Sprecherin stand hinter ihrem Pult und bewegte die Lippen. Allmählich formten sich für Catia die Laute zu verständlichen Worten.
»… fordert der Geiselnehmer nach Angaben von Radio Radicale die Freilassung von zwölf verurteilten Terroristen der Roten Brigaden. Polizeiliche Stellen wollten diese Meldung nicht kommentieren. Sie verwiesen auf eine Presseerklärung des Innenministers, die in wenigen Minuten erwartet wird. Canale 5 wird im Anschluss an die Nachrichten live in den Viminale schalten. Doch zuerst zum Schauplatz der Geiselnahme nach Montesecco. Anna-Maria Guglielmi, wie ist bei Ihnen die Lage?«
Im Fernseher war Minhs Büro von schräg oben zu sehen. Der Schnee auf dem Flachdach schien unberührt. Die feine weiße Linie auf dem Geländer war an einer Stelle unterbrochen, als hätte jemand achtlos über den Handlauf gewischt. Bestimmt hatte sich dort nur ein Vogel kurz
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