Die Augen der Medusa
Scheibe selbst gemachter Salami oder einen Bissen Bistecca wenigstens mal zu probieren. Minh hatte immer abgewehrt. Schon bei dem Gedanken, ein totes Tier zu essen, sei ihm speiübel geworden. So etwas änderte sich nicht von heute auf morgen! Und so blieb die Frage, warum sich ein Geiselnehmer etwas zu essen bringen ließ, was er verabscheute. So sehr sie auch nachdachten, sie fanden keine befriedigende Antwort. Außer der, dass etwas an der Frage nicht stimmte. Vielleicht schmeckte dem GeiselnehmerSchinken sehr wohl. Nur Minh mochte ihn nicht. Und das bedeutete, dass nicht er, sondern ein anderer sich in seinem Büro verschanzt hatte.
»Aber es war doch Minhs Stimme«, sagte Angelo Sgreccia.
Ja, sie hatten die Stimme zu erkennen geglaubt. Jetzt waren sie sich nicht mehr so sicher. Sie waren doch ein ganzes Stück entfernt gewesen. Möglicherweise hatte die Stimme nur so ähnlich geklungen. Vielleicht hatten sie nur deswegen Minh zu hören gemeint, weil sie überzeugt gewesen waren, dass er sich dort befinden müsse. Doch wenn das gar nicht stimmte? Jetzt verstand man auch, warum der Geiselnehmer jeden telefonischen Kontakt vermied. Niemand sollte merken, dass er sich nur für Minh ausgab. Und zwar, weil er die Polizei auf eine falsche Fährte locken wollte! Man wusste von Catia, dass unter den Ermittlern Psychologen waren. Die arbeiteten an einem Täterprofil, um Schwachpunkte zu finden, wo sie bei den Verhandlungen ansetzen konnten. Sie wollten die Reaktionen des Täters vorher wissen, ihn verunsichern, manipulieren, weich klopfen. Doch wenn man es mit einer völlig anderen Person zu tun hatte, als man meinte, nützten auch die genauesten Charakteranalysen gar nichts. Ganz nebenbei erklärte das, wie Minh in die Sache hineingeraten war. Rein zufällig nämlich. Dem Täter ging es gar nicht darum, speziell den Jungen zu belasten. Er wollte nur als jemand anderer gelten. Genauso gut hätte es Ivan oder Angelo oder sonstwen treffen können.
Ein Argument fügte sich zum anderen, die Puzzlesteinchen schienen perfekt zu passen, und das Bild, das sich ergab, leuchtete in helleren Farben, als man es zu hoffen gewagt hatte. Der Geiselnehmer war ein Fremder, Minh unschuldig, und man selbst war ebenfalls aus dem Schneider. In Montesecco vererbten sich Verbrechen eben nicht unweigerlich von Generation zu Generation. Was früher einmal geschehen war, bedeutete für heute gar nichts. Niemandmusste sich noch fragen, inwieweit er mitverantwortlich für die jüngsten Schreckenstaten war.
»Seht ihr!«, sagte Donato triumphierend. »Wenn ich nicht das Zimmer vermietet hätte, wären wir nie darauf gekommen, dass …«
»Du bist so etwas von erbärmlich!«, zischte Marisa. Sie warf sich den Mantel um und stürmte aus dem Gastraum.
»Habe ich vielleicht nicht recht?« Donato grinste verkniffen. Dann machte er eine wegwerfende Handbewegung. »Die kommt schon wieder zurück.«
»Geh ihr nach und entschuldige dich!«, sagte Marta Garzone.
»Ich?«, stieß Donato hervor. Er versuchte, empört zu klingen, doch man sah ihm an, dass er nicht wusste, wie er sich verhalten sollte. Immer noch stand er mit verkrampftem Gesicht schräg vor dem Fernseher. Sekunde für Sekunde verging, und jede schien ein wenig länger zu dauern als die vorhergehende, während Donato mit sich und den stummen Vorwürfen kämpfte, die von allen Seiten auf ihn einprasselten. Die Gesichter um ihn herum forderten ihn auf, den ersten Schritt zu tun und wenigstens zuzugeben, dass er einen Fehler begangen haben könnte, doch das schien ihm nicht zu gelingen. Vielleicht hätte er Hilfe gebraucht, und vielleicht wären sie ihm sogar entgegengekommen, wenn sie nicht durch den Fernseher abgelenkt worden wären.
In der Stille, die zwischen ihnen herrschte, wurde fast gewaltsam spürbar, wie die Stimme der Moderatorin plötzlich einen erregten Unterton annahm. Sie sagte: »… schalten wir live nach Montesecco zu Anna-Maria Guglielmi. Wie es scheint, hat die Mutter des mutmaßlichen Attentäters die Polizeisperren durchbrochen und geht gerade auf das Haus zu, in dem sich ihr Sohn verschanzt hat.«
Seit gestern war der Schnee schon ein wenig zusammengesunken. So wunderte sich Catia Vannoni nicht, dass durchdie weiße Decke Erinnerungen brachen, die im Pflaster der Piazza wurzelten. Sie sah Minh, als er eben erst laufen gelernt hatte und trotzdem schon hinter Lidia Marcantonis kleinem Hund her war. Er bekam ihn nie zu fassen, jagte aber unverdrossen weiter, in jenem
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