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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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niedergesetzt. Die Fenster unterhalb des Dachs waren geschlossen. Hinter den Scheiben lag ein stumpfes Dunkelgrau, das eventuelle Bewegungen spurlos verschluckte.
    Die Konturen des Hauses verschwammen nun im Hintergrund. Der Oberkörper der Reporterin kam ins Bild. Sie stand im Pelzmantel vor einem offenen Fenster und flüsterte etwas von einer trügerischen Ruhe, die jederzeit explodieren könne. Dann kündigte sie dramatische Aufnahmen vom vergangenen Abend an. Ein Polizist, der kaum älter als Minh sein konnte, stellte ein paar Pizzakartons in den Schnee. Als er begann, sich auszuziehen, stand Catia auf. Es war nicht auszuhalten.
    Niemand schien zu bemerken, dass sie im Durchgang hinter der Theke verschwand. Sie verließ die Bar auf demselben Weg, den sie gekommen war. Der graue Himmel draußen riss im Osten etwas auf. Catia empfand die eisige Luft als angenehm kühl und merkte erst daran, wie heiß ihre Schläfen waren. Dennoch zog sie den Reißverschluss ihres Anoraks zu. Zwei Presseleute, die aus dem Haus des Americano traten, musterten Catia neugierig, sprachen sie aber nicht an. Ob man ihr etwas ansah? Sie ging langsam weiter, ohne sich umzudrehen.
    Es gab ein paar ihrer Nachbarn, die in Frage kamen, doch Catia wollte es zuerst bei Franco Marcantoni versuchen. Wie erwartet, war dort die Haustür nicht abgesperrt. Der schmale Waffenschrank stand im Flur neben der Garderobe. Catia ertastete eine Handbreit hinter der oberen Kante den Schlüssel. Sie drehte ihn zwei Mal im Schloss. Franco besaß keine Pistole, und so wählte Catia eines der beiden Gewehre. Das schwere, mit dem Franco früher auf Wildschweinjagd gegangen war. Sie schlug es notdürftig in einen blauen Arbeitskittel, den sie vom Garderobenhaken genommen hatte. Bevor sie Francos Haus verließ, vergewisserte sie sich, dass draußen niemand zu sehen war. Dann lief sie los. Ihr war weder kalt noch heiß. Sie war ruhig. Man musste etwas tun.
    Hinter dem Absperrgitter standen zwei Polizisten. Sie hatten ihre Maschinenpistolen locker umhängen. Ihre Hände waren in den Hosentaschen vergraben. Wohl umseinen Kreislauf in Schwung zu bringen, hüpfte der eine Polizist auf der Stelle. Das hätte er wahrscheinlich nicht getan, wenn seine Waffe entsichert gewesen wäre. Catia trat näher heran. Der Polizist hörte auf zu hüpfen. Er fragte: »Sie wünschen?«
    Catia holte das blaue Bündel hinter dem Rücken hervor, zog das Gewehr heraus und hielt dem Polizisten die Mündung vors Gesicht. Aus seinem Mund kam ein leises Zischen, als hätte man einen Reifen angestochen. Der Polizist riss die Augen weit auf. Ihre Farbe war in der Dämmerung nicht klar zu erkennen. Minh hatte braune Augen. Dunkelbraune, in denen man beim richtigen Licht goldene Einsprengsel zu erkennen glaubte. Catia sagte in Richtung des zweiten Polizisten: »Die Waffe runter! Und zwar schön langsam! Nur mit einer Hand!«
    Eigentlich hätte der Polizist nun etwas stammeln müssen. Irgendetwas, was Catia sowieso schon wusste. Dass sie einen großen Fehler machte. Dass sie im Begriff war, eine Straftat zu begehen. Dass sie nicht den Hauch einer Chance hatte, ungeschoren davonzukommen. Aber der Polizist schluckte nur und hob mit der linken Hand den Gurt der Maschinenpistole über den Kopf. Er legte sie vor sich in den Schnee. Der andere tat es ihm unaufgefordert nach.
    »Das Gitter zur Seite!«, hörte sich Catia sagen. Ihre Stimme klang ruhig. Niemand ist zu stoppen, wenn ihm die Konsequenzen egal sind. Die beiden Polizisten hoben das Absperrgitter an. Sie mussten Catia ansehen, dass sie es ernst meinte. Matteo hatte nicht recht, wenn er behauptete, dass es immer eine Wahl gäbe. Manchmal gab es eben keine. Jetzt zum Beispiel.
    »Und nun verschwindet!«, befahl Catia. Die Polizisten setzten sich zögernd in Bewegung. Sie gingen erst rückwärts, drehten sich nach ein paar Metern um und begannen zu laufen. Catia schlüpfte durch die Lücke in der Absperrung und stieg die Stufen zur Piazza hinab. Unten lehnte sie Francos Gewehr an die Mauer, die den Abhangbegrenzte. Auf der Piazza lag Schnee. Die Spuren von vier nackten Füßen zogen sich zu Minhs Büro hin.
    »Hat etwa einer von euch verlangt, den Fernseher auszuschalten? Hat jemand auch nur eine Sekunde weggesehen?« Donatos Stimme zitterte. Sein Gesicht war hochrot.
    Freilich hatte keiner den Blick abgewandt, als der nackte Polizist die Pizzakartons an Minhs Tür abgeliefert hatte, doch einen Nachrichtenbeitrag anzuschauen und das eigene

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