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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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Monteseccos.
    »Ob es Milena war, die dem Reporter das alles verraten hat?«, fragte Matteo Vannoni.
    Antonietta Lucarelli schüttelte den Kopf. »Das ist doch jetzt egal.«
    Zu ändern war daran freilich nichts mehr. Matteo Vannoni schnitzte an einem Wurzelstück herum. Antonietta saß neben ihm am Tisch. Sie starrte in die Zeitung, obwohl sie mit dem Artikel durch war. Sie hatte ihn laut vorgelesen, konzentriert und langsam, als dürfe kein Wort davon verlorengehen.
    Das Holz im Ofen knackte. Es war ein alter gusseiserner Ofen, der gut heizte, wenn er mal auf Touren war. Zu gut sogar. Diese Öfen hielten nie die richtige Temperatur. Man konnte nur zwischen Eiseskälte und Affenhitze wählen.
    »Matteo?«, fragte Antonietta, ohne Vannoni anzusehen. »Glaubst du, dass etwas Wahres dran ist?«
    »Woran?«
    »Dass jede schreckliche Tat unweigerlich eine noch schrecklichere hervorbringt?«
    Es war Antoniettas Tochter Sabrina gewesen, die Minh vor neun Jahren entführt hatte. Davon war Vannoni fest überzeugt, auch wenn Sabrina im Prozess nicht verurteilt worden war. Sie hatte das Gerichtsgebäude als freier Mensch verlassen und war nie mehr nach Montesecco zurückgekehrt. Angeblich hatte sie in Mailand ihr Studium beendet und arbeitete dort irgendwo als Betriebspsychologin.
    Antonietta hatte lange gezögert, ob sie ihrer eigenen Tochter eine brutale Kindesentführung zutrauen sollte. Ohne dass es einen äußeren Anlass oder gar neue Erkenntnisse gab, hatte sie sich irgendwann dagegen entschieden. Wider besseres Wissen, vermutete Vannoni, obwohl erihren Sinneswandel nie offen angesprochen hatte. Eine Mutter musste wohl so denken. Sie konnte schlecht härter reagieren als der Rechtsstaat, für den eben unschuldig war, wer nicht überführt werden konnte. Vannoni verstand das, und doch war etwas zwischen ihnen zerbrochen, als er kapiert hatte, dass sie ihre neu gefasste Überzeugung nicht mehr in Frage stellen würde.
    Vannoni war erst ein paar Monate vor der Entführung bei Antonietta eingezogen, und trotz gelegentlicher Anfeindungen seitens ihrer Familie war es zwischen ihnen gut gelaufen. Eine vertraute, unaufgeregte Liebe, wie sie ihrem Alter angemessen war. Sie waren sparsam damit umgegangen, so dass sie sich vorstellen konnten, dass sie reichen würde, bis der Tod sie schied. Doch dann war es plötzlich vorbei gewesen. Auch Antonietta hatte es gespürt. Eine Weile hatten sie aneinander vorbeigelebt, und irgendwann war Vannoni wieder ausgezogen. Ohne Drama. Es hatte eben nicht sein sollen.
    Zu Catia und Minh, denen er sein eigenes Haus überlassen hatte, wollte Vannoni nicht zurück. Seit Jahren wohnte er nun am Ortsrand in einem Zwei-Zimmer-Häuschen, das ihn die Rapanotti-Erben kostenlos benutzen ließen, solange er für sie den väterlichen Hof auf halbem Weg nach Magnoni in Schuss hielt. Als Antonietta ihr Haus an der Piazza räumen musste, hatte er sie selbstverständlich bei sich aufgenommen. Irgendwelche Hintergedanken waren dabei nicht im Spiel gewesen. Außerdem hatte er danach sowieso Tag und Nacht bei seiner Tochter Catia verbracht. Zum ersten Mal seit Langem saß er nun mit Antonietta allein zusammen.
    »Matteo?«, fragte sie.
    »Nein«, sagte Vannoni. Er legte das Schnitzmesser zur Seite. »Ich glaube nicht, dass ein Verbrechen zwangsläufig zum nächsten führt. Ich glaube, dass sich jeder entscheiden kann. Vielleicht nicht völlig frei, aber doch so, dass er zu dem, was ihn treibt, nein sagen könnte.«
    Zumindest hoffte Vannoni das. Er dachte an seinen Enkel Minh, der jahrelang in psychologischer Behandlung gewesen war, aber das Trauma seiner Entführung nie wirklich überwinden konnte. Auch seinen Entführer hatte er nie genannt. Wenn überhaupt, sprach er von einem Unbekannten mit den Zügen einer bösen Märchenfigur. Selbst als er schon fast erwachsen war. Kurz nach Minhs sechzehntem Geburtstag hatte Vannoni das Thema letztmals angesprochen. Von einem Moment zum anderen war Minh wieder in die Situation von damals zurückgefallen. Nicht nur, dass er exakt die gleichen Formulierungen verwendet hatte, auch Tonfall und Sprechweise waren die eines verstörten Kinds gewesen. Vielleicht hätte man sich denken können, dass all das einmal gewaltsam aus ihm herausbrechen würde. Im Nachhinein war man immer schlauer. Vannoni sagte: »Mir ist heiß. Stört es dich, wenn ich kurz durchlüfte?«
    »Ich frage mich …«, sagte Antonietta.
    »Was?« Vannoni ging zum Fenster und riss es auf. Kalte Luft strömte

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