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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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bestimmt erst nach Mitternacht ins Hotel. Trotzdem würde er versuchen, Kyrogin heute noch zu erreichen, selbst wenn er die ganze Nacht aufbleiben mußte. Er wußte nämlich nicht (und auch seine Mitarbeiter im Büro hatten es nicht her-ausbekommen), wann Kyrogin in Paris eintreffen und wo er absteigen würde. Die russische Botschaft scheidet jedenfalls aus, dachte Jeff. Kyrogin war Ingenieur, ein wichtiger Mann, aber kein Parteifunktionär. Kyrogin war in halb offizieller Mission unterwegs, um ein lukratives Angebot für ein Joint-venture einzuholen, und Jeff wollte ihn als erster zu fassen kriegen, bevor eine andere amerikanische oder vielleicht auch eine britische Firma sich an ihn heranmachte. Jeff mußte Kyrogin davon überzeugen, daß er für den Bau von Ölfördertürmen keine bessere Produk-tionsgesellschaft finden könne als seine, die Ander-Mack.
    Der Gedanke an den Auftrag, den er in den nächsten vierundzwanzig Stunden unter Dach und Fach bringen mußte, gab Jeff Halt, verankerte ihn wieder im Hier und Jetzt, nachdem das Gesicht des Mädchens ihn unversehens um achtzehn… nein, zwanzig Jahre zurückversetzt hatte, bis in das Jahr mit Phyl. Was nicht hieß, daß er in der lan-317
    gen Zeit dazwischen aufgehört hätte, an Phyl zu denken.
    Sie waren etwas über ein Jahr zusammengewesen. Dann, nach der Trennung, hatte er in den ersten beiden Jahren –
    den schlimmen Jahren, wie er sie bei sich nannte – sehr oft an sie gedacht. Darauf folgte sozusagen ein drei- oder vier-jähriges Moratorium, während dessen er nicht an sie gedacht hatte (jedenfalls nicht mit der früheren Inbrunst), eine Phase, in der er sich, um Phyl aus seinen Gedanken zu verdrängen, noch verbissener in die Arbeit gestürzt hatte; ganz abgesehen davon, daß er in der Zeit eine andere kennengelernt und geheiratet hatte. Sein Sohn Bernard war mittlerweile fünfzehn, ging auf ein teures Internat und war trotzdem keine Leuchte. Bernard hatte noch keine Ahnung, was er einmal werden wollte. Vielleicht Schauspieler. Und Betty, seine Frau, wohnte in Manhattan. Heute morgen beim Abschied hatte er zu ihr gesagt, er werde in drei Tagen zurück sein, vielleicht auch eher. War das wirklich erst drei Stunden her?
    Jeff fand sich mit einer Tasse Kaffee in der Hand wieder, in der er gerade den Zucker verrührte, nur ein Stück, wie üblich. Er konnte sich nicht erinnern, den Kaffee bestellt zu haben. Er hatte einen Oberschenkel auf den Sitz eines Barhockers gelegt. Den Mantel trug er zusammengefaltet über dem Arm, neben ihm am Boden stand sein schwarzes Köfferchen mit dem Vertragsentwurf, den Kyrogin unterschreiben oder zumindest mündlich akzeptieren sollte. Er würde das schon schaffen.
    Zuversichtlich trank Jeff seinen Kaffee aus und musterte die Gäste an den Tischchen entlang der Glaswand gegenüber. Nun hielt er doch Ausschau nach dem 318
    Mädchen, das Phyl so ähnlich sah.
    Da drüben saß sie, an einem Tisch mit einem jungen Mann im Jeansanzug, der aber, wie Jeff aus dem Benehmen der beiden schloß, nicht zu ihr gehörte. Das Mädchen war hübsch angezogen (was wiederum an Phyl erinnerte). Sie trug einen eleganten marineblauen Mantel und einen offenbar recht teuren Schal. Wie, wenn sie Phyls Tochter wäre, durchfuhr es Jeff. Was sonst konnte diese frappante Ähnlichkeit erklären? Vor neunzehn Jahren –
    Jeff erinnerte sich schmerzlich genau – hatte Phyl geheiratet… einen gewissen Guy. Guy und wie weiter?
    Fräser … Frazier oder so ähnlich. Jeff hatte die richtige Schreibweise bewußt aus seinem Gedächtnis verdrängt, offenbar mit Erfolg.
    Das Mädchen sah ihn an. Sie hob den Kopf, ihr Blick fiel ganz zufällig auf ihn, und Jeff zuckte zusammen wie von einer Kugel getroffen.
    Er senkte die Lider, schloß die Augen, wartete, bis sein Herzschlag sich wieder beruhigt hatte, griff dann vorsichtig nach seiner Brieftasche und legte einen Dollarschein auf die Theke. Das eben war wie der erste Blickkontakt zwischen Phyl und ihm damals, in jenem Raum voller Menschen. Nur daß es jetzt weh tat, weil Phyl der Vergangenheit angehörte. Und weil er sie immer noch liebte. Aber damit hast du dich seit Jahren abgefunden, ermahnte er sich. Bloß, weil er in ein Mädchen verliebt war, das er nicht kriegen konnte, nahm ein Mann sich nicht das Leben oder zerstörte seine Karriere. Schließlich konnte man ja versuchen zu vergessen, oder vielmehr nicht ständig in der Erinnerung zu leben, sie nicht zur fixen Idee werden zu 319
    lassen. Er hatte

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