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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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dachte Jeff. Unsinn!
    Eine Halluzination im Halbschlaf. Trotzdem richtete er sich auf, als das Mädchen seine Sitzreihe passierte, als gälte es, sich zu wappnen, als wäre er durch die beiden Passagiere neben sich nicht genügend abgeschirmt.
    Lautlos und in Farbe galoppierte ein Pferdegespann den Gang hinunter, direkt auf das Publikum zu. Jeff, der jetzt hellwach war, fiel minutenlang in eine quälende 322
    Depression, als ob sein Gemüt sich auf einer Schlittenfahrt irgendwo in einem finsteren, nicht einmal ihm selbst bekannten Tal verirrt hätte. Er wußte, warum er seinen Vertragsentwurf vorhin noch einmal durchgegangen war, warum er sich seines Selbstwertgefühls vergewissert hatte: weil seine Arbeit alles beinhaltete, was ihm geblieben war.
    Dabei hatte er Phyl gerade durch seine Arbeit verloren.
    Phyl war mit Guy verlobt gewesen. Und Guy – oder vielmehr seine Familie – hatte Geld. Jeff hatte mithalten, sich auf die Art profilieren wollen, die seiner Ansicht nach für Phyl zählte: indem er Geld machte, richtig großes Geld.
    Paradoxerweise, dachte Jeff, wäre Phyl vielleicht bei ihm geblieben, wenn er sich, statt das große Geld zu machen, mit etwas weniger beschieden und dafür mehr Zeit mit ihr verbracht hätte. Die traurige Pointe lief darauf hinaus, daß Phyl ihm entglitten war, weil sie glaubte, er entgleite ihr.
    Ganze dreizehn Monate waren ihnen vergönnt gewesen, eine gestohlene Woche hier, eine da, ein paar Tage in einem Hotel in Chicago, San Francisco oder Dallas, glückliche Momente, in denen Jeff sie in den Armen hielt (in Motels, Hotels, in einem gewissen Apartment in Evanston, das auf Phyls Namen gemietet war) und zu ihr sagte: »Heute lief's wie geschmiert! Wir sind um zehntausend Dollar reicher. Kann auch mehr sein, ich hab's noch nicht zusammengerechnet.« Doch was wirklich gezählt und gegen ihn gesprochen hatte, das war offenbar die Zeit, in der er nicht bei ihr war. Und selbst wenn er sie vielleicht nie länger als drei Tage allein gelassen hatte, so waren das immer noch drei Tage zuviel. So jedenfalls stellte es sich ihm dar. Was für ein Verlust! Einsehen zu 323
    müssen, daß seine vermeintlichen »Triumphe« ihn zur Strecke gebracht hatten! Phyl zuliebe hatte er das Letzte aus sich herausgeholt. Das zumindest bedauerte er nicht.
    Kam das Mädchen denn gar nicht zurück? Jeff verkroch sich tiefer in seinem Sessel und legte die Hand über die Augen, damit er nicht sehen konnte, wann sie wieder vorbeiging.
    Als die Passagiere des Fluges 807 am Flughafen Charles-de-Gaulle in Roissy bei der Paßkontrolle einge-trudelt waren, bildeten sich vor den Schaltern drei dicht-gedrängte Schlangen. Jeff sah das Mädchen als übernächste vor sich. Dann winkte der Mann zwischen ihnen jemandem hinter Jeff und scherte aus der Schlange aus, so daß Jeff nun direkt hinter dem Mädchen stand. Sie hatte eine weiße Plastikreisetasche neben sich stehen, aus der außer einer angebrochenen Stange Camel, von der ein Päckchen fehlte, der flauschige Kopf eines Plüschpandas hervorlugte. Jeff ließ den Abstand zwischen sich und dem Mädchen um ein paar Schritte größer werden. Die Beamten knallten ihre Stempel in die Pässe, die Schlange kroch langsam vorwärts. Als das Mädchen nach seiner Tasche griff, fiel, ohne daß sie es bemerkt hätte, der Panda heraus.
    Jeff rettete den Bären. »Entschuldigen Sie«, sagte er.
    »Den haben Sie verloren.«
    Phyl blickte erst ihn an, dann den Panda. »Oh, vielen Dank! Mein Talisman!« Sie lächelte.
    Sie hatte sogar das gleiche Gebiß wie Phyl, er erkannte die leicht spitz zulaufenden Eckzähne wieder. Jeff erwiderte ihren Dank mit einem kurzen Nicken. Die Schlange 324
    rückte vor.
    »Der hätte mir schrecklich gefehlt. Ich meine, wenn ich ihn wirklich verloren hätte. Vielen, vielen Dank«, sagte das Mädchen über die Schulter.
    »Keine Ursache.« Klang ihre Stimme wie die von Phyl?
    Eigentlich nicht, dachte Jeff.
    Das Mädchen und er passierten nacheinander die Paß-
    kontrolle. Jetzt waren sie wirklich in Paris angekommen.
    Jeffs Puls beruhigte sich wieder. Er versuchte nicht festzustellen, ob unter den Wartenden in der Ankunftshalle, von denen einige ihren schon erkannten Angehörigen zuwink-ten, auch jemand war, der das Mädchen abholen kam.
    Jeffs Gepäck passierte ohne weiteres den Zoll, und er nahm sich ein Taxi zum Hotel Lutetia. Es war kurz nach eins, und es nieselte.
    »Bonsoir«, sagte Jeff zum Empfangsportier und fuhr auf Französisch fort: »Ich habe

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