Die Augen des Drachen - Roman
hatte vieles durch diese Augen gesehen, aber als er in sie hineinsah, erblickte er lediglich sein eigenes blasses Gesicht, gleich dem Gesicht eines Gefangenen, der aus seiner Zelle heraussieht.
Wenngleich alles in dem Zimmer sehr kalt war (das Feuer würde alles erwärmen, zumindest um den Kamin herum, aber das würde noch eine Weile dauern), erschien ihm der Pfeil seltsam warm. Er erinnerte sich undeutlich an eine Geschichte, die er als kleiner Junge gehört hatte - dieser Geschichte zufolge verlor eine Waffe, mit der ein Drache getötet worden war, niemals die Wärme dieses Drachens. Die Geschichte scheint wahr
zu sein, dachte Thomas schläfrig. Aber die Wärme des Pfeils hatte nichts Beunruhigendes an sich; sie war sogar behaglich. Thomas setzte sich nieder und hielt den Bogen locker in einer und Feind-Hammer mit seiner beruhigenden Wärme in der anderen Hand, ohne zu ahnen, dass sein Bruder auf der Suche nach eben dieser Waffe hierher kam und dass Flagg - der seine Geburt herbeigeführt hatte und der Gefängniswärter seines Lebens geworden war - ihm dicht auf den Fersen folgte.
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Thomas hatte nicht darüber nachgedacht, was er tun sollte, wenn die Tür zum Gemach seines Vaters verschlossen war, und Peter machte sich diese Mühe auch nicht. Früher war es nie so gewesen und, wie sich herausstellte, heute auch nicht.
Peter musste nicht mehr tun, als die Klinke herunterzudrücken. Er stürmte hinein, dicht gefolgt von den anderen. Frisky bellte heftig, ihr Fell war gesträubt. Frisky begriff die wahre Natur der Dinge besser, würde ich sagen. Etwas kam, etwas mit einem schwarzen Geruch wie die giftigen Dämpfe in den Kohleminen der Östlichen Baronie, die die Bergarbeiter umbrachten, wenn sie ihre Schächte zu tief trieben. Frisky würde den Inhaber dieses Geruches bekämpfen, wenn sie musste, bekämpfen und vielleicht sterben. Aber hätte sie sprechen können, dann hätte Frisky ihnen gesagt, dass der schwarze Geruch, der sich ihnen von hinten näherte, keinem Menschen gehörte; es war ein Monster, das sie verfolgte, ein grauenhaftes Es.
»Peter, was …?«, begann Ben, aber Peter achtete nicht auf ihn. Er wusste, was er haben musste. Er hastete auf erschöpften, zitternden Beinen durch das Zimmer, sah empor zum Kopf von Neuner und griff nach dem Bogen und dem Pfeil, die immer über diesem Kopf hingen. Dann verharrte seine Hand.
Beide waren fort.
Dennis, der Letzte, der hereingekommen war, hatte die Tür hinter ihnen geschlossen und verriegelt. Nun erhielt die Tür einen einzigen gewaltigen Schlag. Die dicken, mit Eisenbeschlägen verstärkten Hartholzbretter erzitterten.
Peter sah mit aufgerissenen Augen über die Schulter. Dennis und Naomi wichen zurück. Frisky stand knurrend vor ihrer Herrin. In ihren graugrünen Augen war das Weiße zu sehen.
»Lasst mich ein!«, brüllte Flagg. »Lasst mich durch diese Tür!«
»Peter!«, rief Ben und zog sein Schwert.
»Bleib zurück!«, rief Peter zurück. »Wenn euch euer Leben lieb ist, bleibt zurück! Ihr alle!«
Sie wichen in dem Augenblick zurück, als Flaggs Faust, von der nun blaues Feuer sprühte, erneut gegen die Tür schlug. Scharniere, Riegel und Eisenbänder barsten alle zur gleichen Zeit mit dem Geräusch einer explodierenden Kanone. Blaues Licht schoss in dünnen Strahlen zwischen den gesplitterten Brettern hervor. Dann barsten auch die dicken Bretter. Splitter flogen überallhin. Die zerschmetterten Überreste der Tür standen noch einen Augenblick im Rahmen, dann stürzten sie mit einem Geräusch wie Händeklatschen nach innen.
Flagg stand auf dem Flur, seine Kapuze war zurückgefallen. Sein Gesicht war wächsern weiß. Die Lippen waren schmale Striche, die aussahen wie Leberstreifen. Sie waren zurückgezogen, um die Zähne zu entblößen. In seinen Augen brannte Feuer.
In einer Hand hielt er die schwere Henkersaxt.
Er blieb noch einen Augenblick stehen, dann trat er ein. Er sah nach links und erblickte Dennis. Er sah nach
rechts und erblickte Ben und Naomi, zu deren Füßen die knurrende Frisky kauerte. Seine Augen nahmen sie in sich auf, er prägte sie sich für später ein … dann tat er sie ab. Er kam durch die Überreste der Tür und sah nur Peter an.
»Du bist gestürzt, aber du bist nicht gestorben«, sagte er. »Du denkst vielleicht, dein Gott war gütig. Aber ich sage dir, meine eigenen Götter haben dich für mich aufgespart. Bete nun zu deinem Gott, dass dir das Herz im Leib zerspringen möge. Sinke auf die Knie und bete
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