Die Auserwählten
aber gleichzeitig verfolgt. Mehrere traumatische Erlebnisse in der Kindheit kommen dafür als auslösende Faktoren infrage.
Er hat eine Elektrokonvulsionstherapie erhalten, allerdings ohne den gewünschten Effekt. Am Vormittag hatte er Besuch von seiner Frau, was ihn kurzfristig beruhigt hat. Mittags war er aber bereits wieder sehr depressiv, es wurde beobachtet, dass er mit dem Kopf auf den Boden geschlagen und gerufen hat: ›Ich kann das nicht sein! Das kann nicht stimmen!‹, und später: ›Ich höre zu. Ich verspreche zuzuhören.‹ Angstdämpfende Mittel erzielten keine Wirkung. Am frühen Nachmittag war der Patient so unruhig, dass seine Frau gerufen werden musste. Dies erwies sich als Fehler, denn kurz nach vierzehn Uhr waren der Patient und seine Frau plötzlich verschwunden. Es war ihnen gelungen, das gesicherte Fenster aufzubrechen und auf diesem Weg aus dem Haus zu flüchten. Eine halbe Stunde später irrte der Patient mit einem spitzen Gegenstand in der Hand, vermutlich einem Messer, vor dem Hospital herum. Niemand weiß, woher dieses Messer stammte. Bevor die Pfleger ihn unter Kontrolle hatten, hat er versucht, seine Frau zu erstechen. Sie wurde mit tiefen Schnittwunden am Hals aufgenommen, die Verletzungen sind aber nicht lebensbedrohlich.
Der Patient wird betäubt und fixiert.
28. Dezember 1943
Der Patient ist ruhig und schläft die meiste Zeit des Tages. Zum ersten Mal seit seiner Einweisung vor ein paar Tagen schläft er einige Stunden zusammenhängend. Als er aufwacht, wünscht er, mit seiner Frau zu sprechen. Diesem Wunsch wird nicht nachgekommen. Abends wird eine Entdeckung gemacht, die von den herbeigerufenen Dermatologen als ›höchst ungewöhnlich‹ bezeichnet wird: Das große, psychosomatisch bedingte Ekzem auf dem Rücken des Mannes bildet sich deutlich zurück. Die Schwellungen sind abgeklungen, und es ist nur noch eine schwache Rotfärbung zu erkennen.
26. Januar 1944
Der Patient wird gegen Mittag entlassen.
Niels lehnte an der Wand. Er wusste nicht, wie er dorthin gekommen war. Die Patientenakte lag auf seinem Schoß. Draußen hörte er Schritte. Stimmen. Hatte er geschlafen? Jemandem musste das Licht unten im Keller aufgefallen sein. Er hatte keine Kraft mehr für eine weitere Flucht. Zwei Männer betraten das Archiv.
»Da!«, sagte der eine und zeigte mit einer brennenden Taschenlampe auf Niels, obgleich er im hell erleuchteten Raum saß.
»Was zum Teufel machen Sie hier?«, fragte der andere.
***
Als sie Niels auf das Bett gelegt hatten und ihn langsam zurückschoben, warf er einen Blick auf die Uhr. Es war kurz nach zehn am Vormittag. Draußen war es noch immer grau, es roch nach Schnee. Die Sonne war nirgends zu sehen. Vielleicht war sie überhaupt nicht aufgegangen. Wenn sie wegblieb … wegblieb. »Bleib weg!«, murmelte Niels, bevor sein System auf die Spritze reagierte und sich abmeldete.
17.
17.
13.10 Uhr – 2 Stunden, 42 Minuten bis Sonnenuntergang
Wieder ein Erwachen. Immer war es so, als würden ihre Augen von kleinen, heranrollenden Wellen aufgespült und beim Abfließen des Wassers wieder geschlossen.
»Ich …«, sagte Hannah und geriet ins Stocken. Dieses Mal durfte sie mit niemandem reden. Niemanden um Hilfe bitten. Nicht das Personal anflehen, sie bei Bewusstsein zu lassen. Sie waren in einem Krankenhaus. Sie würden alles tun, um sie zu retten. Aber sie missverstanden sie. Das wusste Hannah genau, denn für sie ging es doch gerade darum, zu sterben. Heute. Noch vor Sonnenuntergang.
Ruhige Bewegungen – im Tempo ihrer noch immer von den Medikamenten beeinflussten Hirnfunktionen. Erst zog sie sich die Tropfkanüle heraus, dann klebte sie ein Pflaster auf die Einstichstelle. Die Beine über die Bettkante. Aufstehen. Unsicher wie ein kleines Kind, das seine ersten wackligen Schritte machte. Ein Bein konnte fast nichts. Sie brauchte eine Krücke oder einen Rollstuhl.
Sich an der Wand abstützend, arbeitete sie sich bis zum Schrank vor. Ihre Jacke hing einsam und allein auf einem Bügel, verdreckt von dem Unfall. Sie stank nach Wacholder und Alkohol, und die zerbrochene Flasche Gin kam ihr wieder in den Sinn. Die hellblauen Glassplitter. Sie zog die Jacke an. Erst erkannte sie die Frau nicht, die unvermittelt vor ihr stand und sie wütend anstarrte. Dann kam die schmerzliche Erkenntnis, dass das ihr Spiegelbild war. Einen Moment lang wusste sie nicht, ob sie entsetzt oder erleichtert sein sollte. Ihr Gesicht war einseitig geschwollen. Aber was machte
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