Die Auserwählten
einer stabilen Beziehung immer im Weg gestanden hatte. Die Versuchungen waren einfach zu zahlreich gewesen. Auch wenn sich das in den letzten Jahren, er war jetzt Mitte vierzig, geändert hatte. Sein Aussehen hatte sich nicht wesentlich verändert, wohl aber die Menschen um ihn herum. Plötzlich waren alle verheiratet und genossen die Annehmlichkeiten der Ehe. Tommaso sagte sich beinahe täglich, dass er endlich eine Frau finden müsse. Doch an diesem Abend würde daraus nichts werden. Das wurde ihm klar, als sein Blick erneut seinem Spiegelbild begegnete.
»Grazie.« Tommaso nickte dem Mann aus Guatemala zu und trat auf den Bahnsteig.
Er prüfte sein Handy. Keine neuen Nachrichten, keine Bilder. Tommaso warf einen Blick auf die Bahnhofsuhr. Dienstag, 15. Dezember 2009, 01.18 Uhr. Er wusste, dass es manchmal Minuten dauern konnte, manchmal aber auch Stunden, bevor eine in Asien abgeschickte Nachricht auf seinem Handy ankam. Die Nachrichtendienste verlangsamten die Übertragung, um kontrollieren zu können, was hin-und hergeschickt wurde. Auch die Gespräche wurden streng kontrolliert.
»Flavio.« Tommaso rief seinen Kollegen. »Flavio!«
Sie waren in dieser Nacht, die für sie vor gerade erst siebzehn Minuten begonnen hatte, zu dritt auf Streife. Noch immer regnete es. Schräg gegenüber des Präsidiums lag der Bahnhof, der häufig ihre erste Station war. Um halb zwei traf der Zug aus Triest ein, in dem oft illegale Einwanderer aus Osteuropa saßen, die ihr Glück im Westen suchten, um dann doch nur für einen Hungerlohn in irgendeiner schmutzigen Küche zu arbeiten.
Flavio trat aus dem Regen unter das schützende Stahldach des Bahnsteigs. Er musste fast schreien, damit Tommaso ihn trotz des Lärms verstehen konnte. »Wir lassen sie gehen.«
»Warum?«
»Selbstmord in Murano.«
»Selbstmord?«
»Oder Mord. Bei diesen Inseln kann man ja nie wissen.«
Flavio putzte sich mit drei geräuschvollen Schnaubern die Nase und steckte das Taschentuch wieder weg.
Tommaso warf noch einmal einen Blick auf sein Handy. Noch immer nichts aus Indien. Habe ich Angst vor der Antwort? , fragte er sich, als sie auf dem Weg zum Boot waren. Meistens hatte er mit seinen Vermutungen richtig gelegen. Er dachte an den Toten, der vor ein paar Monaten in Hanoi gefunden worden war. Auf die gleiche Weise gestorben. Mit dem gleichen Mal. Auch dieser Mann war ein Wohltäter gewesen.
Noch bevor Flavio das Boot auf dem Kanal gewendet hatte, bemerkte Tommaso das Licht im Büro seines Chefs. Tommaso wusste nur zu gut, was das bedeutete: Commissario Morante hatte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um herauszufinden, wer die chinesischen Behörden beauftragt hatte, das Päckchen zu schicken. Bald würde er es wissen. Commissario Morante war ein gründlicher Mann. Es würde ihm nicht entgehen, dass Tommaso via Interpol eine Warnung an eine ganze Reihe europäischer Polizeibehörden verschickt hatte. Unter anderem nach Kopenhagen.
4.
4.
Kopenhagen – Dänemark
Eiskalte Stunden in Nordvest.
Der Regen trommelte in unerschütterlichem, monotonem Rhythmus auf das Dach des Streifenwagens. Die Tropfen waren schwerer geworden. Bald würde das Wasser über der Stadt kristallisieren und sich als weicher Schnee auf die Straßen legen, dachte Niels Bentzon, während er mit zitternden Fingern noch eine Zigarette aus der Packung zu fischen versuchte.
Durch die beschlagenen Scheiben schien die Welt um ihn herum ein undurchdringlicher Schleier aus Wasser, Dunkelheit und den aufblitzenden Lichtern der vorbeifahrenden Autos zu sein. Er lehnte sich zurück, starrte nach draußen ins Nichts. Er hatte Kopfschmerzen und dankte höheren Mächten dafür, dass der Einsatzleiter ihn gebeten hatte, erst einmal im Auto zu warten. Niels hatte so seine Probleme mit dem Dortheavej. Vielleicht weil diese Gegend das Unglück geradezu magisch anzog. Es würde ihn nicht wundern, wenn es in dieser Nacht im übrigen Kopenhagen gar nicht regnete.
Niels versuchte sich daran zu erinnern, wer zuerst hier gewesen war: die islamische Glaubensgemeinschaft oder das Jugendzentrum. Zwei Organisationen, die gewaltbereite Menschen mit offenen Armen aufnahmen. Jeder Polizist wusste das: Ein Notruf, um Verstärkung im Dortheavej im Nordwestquartier anzufordern, konnte nur bedeuten, dass es wieder einmal um eine Bombendrohung, eine Demonstration, eine Brandstiftung oder eskalierende Gewalt ging.
Niels war bei der Räumung des alten Jugendzentrums dabei gewesen; wie beinahe jeder
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