Die Auserwählten
zu informieren.« Der Atem des Chefs roch nach Chianti und Knoblauch.
»Ich muss jetzt auf Streife«, antwortete Tommaso ausweichend, stand auf und flüchtete nach draußen in den Regen.
Die Brücke, die vom Präsidium zum Polizeiboot führte, war das Erste, was jeder prominente Gast der Stadt zu sehen bekam. Nachdem sie vom Festland herübergefahren und von Commissario Morante in Empfang genommen worden waren, führte er sie immer durch das ehrwürdige Präsidium, ein altes Kloster, und dann über die Polizeibrücke zum Canal Grande. Doch in dieser Nacht hatten sie keine Gäste. Es regnete. Tommaso sprang ins Boot und wählte die Nummer des letzten, nicht angenommenen Anrufs.
»Hallo?«
»Hier ist noch einmal Tommaso di Barbara. Sind Sie noch vor Ort?«
»Ja. Ja!« Giuseppe Locatelli klang erregt.
Tommaso fluchte innerlich. Dieser verdammte Regen. Er verstand den Mann kaum. Er presste die andere Hand auf das freie Ohr und lauschte.
»Ich bin noch immer in der Leichenhalle.«
»Haben Sie ihn umgedreht?«
»Ja, das ist …«
»Reden Sie lauter«, rief Tommaso. »Ich kann Sie nicht verstehen.«
»Er hat ein Mal auf dem Rücken. Das sieht vollkommen verrückt aus. Wie eine …«
Tommaso unterbrach sein Schweigen. »Wie eine Tätowierung?«
»Ja.«
Flavio und der neue Kollege aus Puglia kamen durch den Regen angerannt. Sie bildeten gemeinsam mit Tommaso die nächtliche Streife.
»Können Sie mit Ihrem Handy auch Fotos machen?«, fragte Tommaso.
»Ja, ich habe aber auch eine Kamera mitgenommen. Sie hatten mich ja in der Mail darum gebeten.«
Tommaso dachte rasch nach. Deutete er die Laune seines Chefs richtig, war seine Zeit im Präsidium bald vorbei. Zu lang, um auf Fotos zu warten, die auf dem Postweg aus Indien unterwegs waren.
»Machen Sie mit Ihrem Handy Fotos von seinem Rücken. Hören Sie mich? Es eilt. Machen Sie Gesamtaufnahmen von seinem Rücken, aber auch ein paar Nahaufnahmen – gehen Sie so dicht ran, wie die Optik es erlaubt.«
Flavio und der Neue öffneten die Tür und betraten das Steuerhaus des Bootes. Sie grüßten Tommaso, der ihnen zunickte.
»Haben Sie mich verstanden?«, fragte Tommaso.
»Ja«, antwortete Giuseppe.
»Und senden Sie mir die Bilder dann via MMS.«
Tommaso legte auf. Er fischte das Pillenglas aus seiner Hosentasche, würgte zwei Tabletten mit seinem Speichel hinunter und fragte sich, bei wem er sich angesteckt haben konnte. Vielleicht irgendjemand im Hospiz. Die Pfleger und Schwestern, die sich um seine Mutter kümmerten, waren ja unablässig in Kontakt mit Krankheiten. Der Gedanke an seine sterbende Mutter versetzte ihm einen Stich. Er hatte ein schlechtes Gewissen.
Bahnhof Santa Lucia, Venedig
Sein Pass verriet, dass der Mann aus Guatemala kam. Es war der kleinste Pass, den Tommaso jemals gesehen hatte: nur ein kleinformatiges, gefaltetes Stück Pappe. Ohne Platz für zusätzliche Stempel oder Visa, lediglich eine Fotografie des Besitzers, der wie ein Indio aussah, und ein paar zweifelhafte Stempel von nicht minder zweifelhaften Behörden jenseits des Atlantiks.
»Poco, poco«, antwortete der Passinhaber auf Tommasos Frage, ob er Italienisch spreche.
»Französisch? Auch nicht?«
Der Mann sprach etwas Englisch, eine Sprache, die nicht gerade zu Tommasos Stärken zählte. Aber was das anging, war Tommaso in Italien in guter Gesellschaft. Nicht einmal sein Englischlehrer in der Schule hatte Englisch gekonnt. Stattdessen hatte man Tommaso und seinen Mitschülern Französisch eingebläut. Tommaso hätte lieber Englisch gelernt, doch dafür war es jetzt wohl zu spät. »Ist man erst älter als fünfundzwanzig, lernt man nichts Neues mehr, dann ist es zu spät«, hatte sein Vater immer gesagt. »Und ist man erst über dreißig, sollte man sein eigener Arzt sein.« Tommasos Vater hatte Cannaregio in Venedig nie verlassen und war gestorben, weil er sich standhaft geweigert hatte, mit seinen Lungenproblemen zum Arzt zu gehen. Tommaso wusste es genau: Väter sollten weniger reden und keine klugen Ratschläge geben. Er wusste aber auch, dass er in vielerlei Hinsicht eine schlechte Kopie seines Vaters war.
Tommaso richtete sich auf und fing sein Spiegelbild im Fenster des Zuges ein. Normalerweise hätte ihm ein glatt rasiertes Gesicht mit markantem Kinn, forschendem Blick und grau melierten Haaren begegnen sollen, doch an diesem Abend sah er nur jemanden, der dringend zu Hause ins Bett gehörte. Tommaso war sich vollkommen im Klaren darüber, dass sein gutes Aussehen
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