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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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Anspruch verfiel auch nicht in einem neutralen Land. Der schwedische Staat bezahlte einem internierten lettischen Hauptmann das volle Hauptmannsgehalt. Ein einfacher Soldat bekam seinen Sold. Der Sold eines Gefreiten ist nicht hoch, aber ein Hauptmannsgehalt kann sich schon sehen lassen. Die Offiziere wollten ihre Ansprüche nicht verlieren. Kessels wollte es nicht, die anderen Offiziere ebenfalls nicht. Und folglich sagten sie nein. Damit konnten die Dinge ihren Lauf nehmen.
    Als sie nach Ystad kamen, herrschte große Verwirrung. Von überall her waren Flüchtlinge eingetroffen, mit Booten und Schiffen von See her. Die Schweden waren schlecht vorbereitet, die Registrierung erfolgte oft nach Gutdünken oder beruhte auf Zufall. Für die Letten gab es zwei Listen, eine für Zivilisten und eine für Soldaten. Aber man hielt zusammen. Hatte man bisher zusammengehalten, so konnte man das auch noch einige Wochen länger tun. Slaidins, der Arzt war, zögerte lange. Seine Freunde aber hatte er unter den Legionären, und im übrigen war alles ziemlich gleichgültig. Er griff nach der Liste für Soldaten und trug sich dort ein. Jeder musste angeben, an welchem Frontabschnitt er stationiert war. Alle gaben die Ostfront an. Man schrieb den 8. Mai, der Krieg war zu Ende, sie befanden sich in Schweden.
    Irgendwo gab es sicher Regeln, Direktiven, Grundsätze. Irgendwo gab es eine Behörde, die später einmal bestimmen sollte, dass deutsche Militärs von der Ostfront in den Osten und diejenigen von der Westfront in den Westen zurückgeschickt werden sollten. Irgend jemand wusste sicher schon in diesem Augenblick, dass die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Militärs wichtig war und kein bloßes Lotteriespiel.
    Hinterher glaubte jeder, er hätte richtig handeln können, wenn er nur Bescheid gewusst hätte. Wenn dieses Chaos nur nicht so unkompliziert gewesen wäre und nicht zum Leichtsinn verführt hätte. Kennzeichnend für das allgemeine Durcheinander ist die Tatsache, dass zweihundert reichsdeutsche Soldaten, die an der Ostfront gekämpft hatten und per Schiff nach Ystad geflohen waren, mit der Eisenbahn nach Westdeutschland geschickt wurden. Sie fuhren durch Dänemark. Es war sehr einfach: sie setzten sich in einen fahrplanmäßigen Zug, der von Ystad nach Malmö fuhr, »um von dort in ihr Land weiterbefördert zu werden«.
    Kein Mensch hielt das für ungewöhnlich. Die Soldaten wurden verpflegt, entlaust, registriert, wieder verpflegt, sie schliefen eine Nacht und fuhren am Morgen des 10. Mai nach Westdeutschland. »Sie bestiegen die letzten vier Wagen des Malmö-Zuges.«
    Am 10. Mai wurden die Balten nach Bökeberg gebracht. Sie schliefen zwei Nächte in Ystad und wurden dann in Bussen weitertransportiert. Die Busse fuhren durch einen Buchenwald und hielten vor einem Herrenhaus. Die Soldaten stiegen aus und sahen sich um. Es war Mai, vor dem Schloss oder Herrenhaus – sie wussten nicht, wie sie das Gebäude bezeichnen sollten – lag eine Wiese. Eine grüne Wiese. Die Fenster des Herrenhauses waren heil. Am Abend brannte Licht. Sie schlugen auf der Wiese ihre Zelte auf, zwischen zwei riesigen Eichen. Nach zwei Tagen bekamen sie barackenähnliche Hütten, in denen sie sich wohler fühlten.
    Manchmal unterhielten sie sich über ihre Zukunft. Sie fragten die schwedischen Offiziere oft, wohin man sie schicken werde, was mit ihnen geschehen solle, aber zu ihrem Erstaunen wussten die schwedischen Offiziere keine Antwort. Das Verhältnis zwischen Letten und Deutschen war leidlich gut, aber einer der deutschen Offiziere ließ der schwedischen Lagerleitung gegenüber seinen Unwillen darüber verlauten, dass die Letten, obwohl sie regulären deutschen SS-Verbänden angehört hätten, »nach ihrer Ankunft in Schweden die SS-Embleme entfernt« hätten.
    Dieses Problem war niemandem eine Diskussion wert.
    Tagsüber badeten die Soldaten in der Bucht: dort gab es Schilf, ein Boot, eine Anlegebrücke. Sie erinnern sich, viel gegessen zu haben. Sie erinnern sich gern an diese erste Zeit in Schweden: ein Gegenpol, ein Gegenbild zu dem, was später geschah. Die Nächte waren lau, sie saßen vor ihren Zelten, rauchten und sahen die Lichtstrahlen zwischen Buchenstämmen und Eichen einfallen, sahen die Dämmerung hereinbrechen und sich über den See legen, sahen, wie der Himmel sich dunkelblau färbte. Im Mai 1945 waren die Buchenwälder um Bökeberg hell und luftig, das Wasser war kalt, aber sie badeten trotzdem. Sie schliefen viel, tagsüber

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