Die Ausgelieferten
Der Mann sah nett aus, aus seinem Gesicht sprachen Wärme und Humor.
– The heroes, sagte das warme, humorvolle Gesicht. Gucken Sie die bloß nicht an. Scheißen müsste man denen was. Die wollen bloß, dass wir gucken oder mit Steinen werfen, dann können sie sich als Märtyrer fühlen, dann gehts denen gut. Gar nich um kümmern.
Er antwortete nicht, saß still da, während der Bus weiterbrummte. Er kann hier sicher nicht anhalten, dachte er. Es gibt wahrscheinlich Haltestellen, an die er sich halten muss. Ich kann genauso gut in die Stadt fahren und dann einen Wagen nehmen. Es sind doch ziemlich viele. Würde verdammt komisch aussehen, wenn ich hier in der Einöde ausstiege. Ich warte lieber.
Sie kamen in eine Talsenke mit dunkelgrünen, eigentümlich feuchten Farben. Die Bäume waren von Schlingpflanzen überwuchert; wilder Wein, kletternde Blätter, er wusste keine Namen. Er könnte nach Schlingpflanzen fragen. Daraus wurde ein Gespräch. Ein nettes Gespräch. Es ist die Hölle, durch diese Wälder zu gehen, sagte der Mann. Es gibt Schlangen. Um zehn Uhr waren sie in Jackson, Mississippi.
Es dauerte länger, als er erwartet hatte. Er fand kein Hotelzimmer. Er bummelte durch die Stadt, sie war sauber und modern, aber es gab keine Hotelzimmer. Gegen fünf Uhr nachmittags war endlich alles erledigt. Er nahm einen Bus nach Norden, da er kein Taxi nehmen wollte – vielleicht wagte er es auch nicht. Er kam zu spät an, die Bürgerrechtler hatten ihre Tagesetappe schon hinter sich gebracht. Er fühlte sich erleichtert, fast ausgelassen. Man hatte versucht, ein Lager aufzuschlagen, aber keine Erlaubnis bekommen. Danach kam die Polizei mit Schlagstöcken und Tränengas und riss die Zelte ab: das war leicht, ein leichter Sieg, dies war der letzte Sommer der Gewaltlosigkeit. Jetzt war es ruhig. Sie schlugen ihre Zelte an einem anderen Ort auf, wo man sie gewähren ließ. Er stand am Rand des Lagers und sprach mit einem alten Mann, der Tränengas auf die Haut bekommen hatte. Es brannte, und er wagte nicht, sich zu rasieren. Er war Quäker. Er kannte Schweden. Morgen gehen wir weiter, sagte er, dann kannst du von Anfang an dabei sein, du hast doch keine Angst? Nein, sagte er, nein. Nein, dachte er, nein, ich habe tatsächlich keine Angst, wirklich nicht, aber als ich zu spät gekommen war, empfand ich keine Scham, sondern war glücklich. Ich bin ja nur hier, um meinem Engagement auf den Zahn zu fühlen. Er fühlte noch immer ein stilles, weiches und zögerndes Glück. Er war dabei, nahm aber keinen Anteil, das war ein schönes Gefühl.
Morgen um neun Uhr, sagten sie.
Sie fuhren gemeinsam per Anhalter in die Stadt. Es dauerte zwei Stunden, er ging sofort in sein Hotelzimmer, rasierte sich und badete, zog einen frischen, kühlen Schlafanzug an und legte sich aufs Bett. Nach einer Weile stand er auf und stellte den Fernseher an. Zuerst kam ein Werbefilm für Tiger, eine Soldatenpuppe mit kompletter Ausrüstung und einer MPi; sie ähnelte GI Joe, einer anderen Soldatenpuppe, die er von früheren Werbesendungen her kannte. Der Film über Tiger war sehr hübsch und dramatisch gemacht, mit gekonnten Kampfszenen. Danach kamen Nachrichten und wieder Reklame.
Mittendrin wurde ein Bericht über den Marsch gebracht. Er sah nicht viel, nur eine Menge Rauch und Soldaten mit Gasmasken, einige schreiende Menschen, die mit vors Gesicht gepressten Händen vor den Soldaten flohen. Der Ort hieß Canon, das wusste er. Danach kam ein Werbefilm für Millers Bier. Er hatte es schon einmal getrunken und sah interessiert zu. Nach einer Weile war dieser Film zu Ende, dann kam eine »soap opera«, er lag auf dem Bett und ließ die Programme an sich vorüberziehen. Er stellte einen anderen Kanal ein: wieder Nachrichten. Auch hier wurde ein kurzer Bericht über den Marsch gesendet. Er sah nicht viel, nur eine Menge Rauch und Soldaten mit Gasmasken vor den Gesichtern, einige schreiende Menschen, die vor den Soldaten flohen, und ein Interview aus einem der Zelte, die er gesehen hatte. Er lag völlig still auf dem Bett und dachte, diese Berichterstattung ist doch besser als die in Schweden, sie vermittelt ein viel direkteres und schnelleres Bild, außerdem kann man den Kanal wechseln. Es machte gar nichts, dass er Canon versäumt hatte, er konnte es ja im Fernsehen erleben. Es war vielleicht kein gleichwertiges Erlebnis, aber ein ähnliches; man bekam einen besseren Überblick und größeren Abstand. Man konnte sich über das Geschehen Klarheit
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