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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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lagen sie auf der Wiese und sonnten sich. Streitereien gab es nicht. Die Lagerleitung kann sich an unliebsame Zwischenfälle nicht erinnern. Sie lagen in der Sonne, schliefen, badeten. Sie fanden alles schön. So begann Schweden für sie: ein weißes Gebäude, eine Wiese, die zum See hin abfiel, eine Bucht, eine Anlegebrücke aus Holz. Frische Luft und Ruhe.
    Sie blieben vierzehn Tage.
    Heute ist alles noch da: die Wiese, das Herrenhaus, die Eichen, die Buchen. Niemand, außer dem Lagerchef, erinnert sich noch daran, dass sich hier einmal ein Lager befand. Der See ist noch da. Hier badeten sie. Die Anlegebrücke ist noch da; sie ist halb verfault, von Schilf umgeben. Daneben liegt ein halb im Wasser versunkener Kahn.
    Auf die Anlegebrücke zeigen alle. Hier ist die Brücke, sagen sie. Hier ist der Kahn. Hier ist Hjalmar Gullberg gestorben. Genau hier hat man ihn gefunden. In der Bucht, an der Anlegebrücke in Bökeberg.
    Nach vierzehn Tagen wurden die lettischen Legionäre in ein Lager außerhalb von Eksjö transportiert. Es hieß Ränneslätt.

3
    J ede Untersuchung hat einen Ausgangspunkt. Jede Untersuchung hat einen Untersucher. Jeder Untersucher hat Wertungen, Ausgangspunkte, verborgene Vorbehalte, heimliche Voraussetzungen.
    Es ist notwendig, wenigstens über einen der Ausgangspunkte dieser Untersuchung Rechenschaft abzulegen. Er liegt zeitlich recht nahe: Juni 1966.
    Im Juni 1966, eine Woche nachdem er New York verlassen hatte, befand er sich in Oak Ridge, Tennessee. Das, woran er sich später am besten erinnern sollte, war die eigentümlich spröde Hitze, die ihn während dieser Tage ständig zu umgeben schien. Er konnte sich nie an sie gewöhnen, die Luft war trocken, ein zerbrechliches und sprödes Gefühl der Erschöpfung schien ihn immer wieder von neuem zu befallen. Die Hitze lag völlig still; er trug die falsche Kleidung, hatte die falschen Essgewohnheiten; alles das machte ihn reizbar, empfindlich und ließ ihn sich der Hitze fast hysterisch bewusst werden.
    Zweimal kam er hierher. Zuerst an einem Abend, er schlief eine Nacht und reiste dann am kommenden Morgen nach Süden weiter. Fünf Tage später kehrte er zurück. Die Hitze war die gleiche. Am Tag konnte er sehen, wie der Ort wirklich beschaffen war.
    Man sagte ihm, der Ort sei nach dem Krieg zusammengeschrumpft. Er sei einmal das Zentrum der Kernphysik und der Atomforschung gewesen, und noch heute glaube man, die Wiege der Atombombe habe hier gestanden, was er allerdings stark bezweifelte. Damals hatten siebzigtausend Menschen oder noch mehr hier gewohnt; jetzt waren viele der Techniker weggezogen. Nur die Spezialisten, die Theoretiker, befanden sich noch hier. Insgesamt mochten noch etwa zwanzigtausend Menschen hier leben. Bei seinem zweiten Besuch sah er mit einem Mal, wie hässlich die Ortschaft war: tief unten in der flachen Talsenke ein riesiger Marktplatz mit rotem Sand und kleinen Baracken, die flach und modern aussahen, die sich aber sehr bald als Slums modernistischer Architektur erweisen sollten: Selbstbedienungsläden und Geschäfte und Büros und Fernmeldemasten und Sonne und Hitze und Autos. Alles sehr sachlich und ohne die Spur eines Gedankens in die Gegend gestreut. Die Bank hatte einen Atompilz als Firmenzeichen; man war stolz auf seinen Platz in der Geschichte. Nirgends auch nur eine Andeutung von Stadtplanung, hier sah man ein Beispiel der totalen Freiheit, die es jedem erlaubt, ein Haus zu bauen, wo er will und wie er will. Eine Stadtmitte fehlte: eine Ansammlung von Häusern, als hätte ein Riese moderne Villen, Sand, einzelne Bäume, Autos und Blechhütten spielerisch über die Schulter geworfen, ohne sich umzusehen.
    Dies war aber nur eine der Wirklichkeiten dieses Orts. Weiter oben, am Berghang, im Schatten der Bäume, lagen die Luxusvillen oder besser: Villen, die es Luxusvillen gleichzutun versuchten. Es waren Häuser mit schütteren grünen oder strohgelben Rasenflächen davor, mit Gärten, in denen Wassersprinkler herumwirbelten und dünne, hysterische Wasserwände in die Luft spritzten, mit sandigen, gelben Wegen und Betonplatten. über allem lag eine staubige, gelbe Luft, die wie gelbes Wasser um Villen und Menschen stand. Häuser und Menschen schienen in einem riesigen Aquarium zu leben, in Häusern, die am Tage tot zu sein schienen, um erst später, bei Anbruch der Dunkelheit mit ihrem Zikaden-Gezirp, mit einer neuen und absurden Vitalität aufzuleben.
    Beim erstenmal war er am Abend hergekommen, alles war gut

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