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Die Ausgesetzten

Die Ausgesetzten

Titel: Die Ausgesetzten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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zumindest zeitweilig – genau wie all die anderen verschollenen Kinder
     der Geschichte. Doch sosehr er seine wahre Identität und sein wahres Zeitalter kennenlernen wollte   … vielleicht war er doch noch nicht ganz bereit dafür?
    Der Moment zu fragen war vorüber. HK antwortete Katherine.
    »Ich dachte mir, dass ich es ihr am besten zeige«, sagte er.
    HK betätigte einen Schalter an der Wand hinter Jonas’ Sessel und schon verwandelte sich die gegenüberliegende Wand unverzüglich
     in etwas, das an einen Fernsehbildschirm mit sensationeller Auflösung erinnerte. Wellen schlugen an einen Sandstrand und Jonas
     hatte keinen Zweifel, dass er jedes einzelne Sandkorn erkennen würde, wenn er nur genau genug hinsah.
    »Spring einfach zu dem Teil, der für sie interessant ist«, sagte HK.
    Jonas war nicht sicher, ob HK geradewegs mit dem Bildschirm sprach (oder was immer diese futuristische Erfindung sein mochte)
     oder ob irgendwo jemand in einem Kontrollraum saß und ihre gesamte Unterhaltung mitverfolgte. Manchmal wollte er über dieses
     ganze Zeitreisen-Durcheinander lieber nicht zu viel nachdenken. Er wusste, dass HK sie bereits aus dem einundzwanzigstenJahrhundert geholt hatte und dass sich der Warteraum, in dem sie saßen, in einem Zeittunnel befand, einem Ort, an dem Zeit
     gar nicht wirklich existierte. Er wusste, dass HK ihnen wahrscheinlich gleich einige Szenen aus Andreas »wirklichem« Leben
     zeigen würde, ehe sie von skrupellosen Zeitreisenden entführt worden und (mit all den anderen verschollenen Kindern) am Ende
     des zwanzigsten Jahrhunderts notgelandet war. Trotzdem hatte er ein besseres Gefühl, wenn er sich einredete, dass er lediglich
     einen Fernseher mit unglaublich gutem Empfang vor sich hatte.
    Die Szene vor ihnen veränderte sich. Sie schienen über das Wasser auf einen sumpfigen Küstenstrich zuzufliegen und dann ein
     Stück landeinwärts, zu einer primitiven Ansammlung von Häusern. Einige davon waren von einem Holzzaun umgeben, der fast drei
     Meter hoch sein mochte. Allerdings wirkten sowohl die Häuser als auch der Zaun ein wenig baufällig und hatten an mehreren
     Stellen Löcher.
    Wieder wechselte die Ansicht und konzentrierte sich auf eine Frau, die aus einem der besser aussehenden Häuser eilte. Sie
     trug, was Jonas unter altmodischen Kleidern verstand: einen langen Rock, eine langärmelige Bluse und eine komische Haube,
     die ihren ganzen Kopf bedeckte. Der Rock war nicht ganz so ausladend wie jene, die er im fünfzehnten Jahrhundert gesehen hatte,
     trotzdem war er nicht sicher, ob er es wirklich mit einer anderen Epoche zu tun hatte oder einfach nur mit anderen Menschen.
     Ärmeren Menschen, nicht mit Adligen.
    »Das Baby von Mistress Dare ist da!«, rief die Frauund die Freude übertünchte die Erschöpfung auf ihrem Gesicht. »Ein holdes, schönes Mägdelein!«
    Aus den übrigen Häusern strömten weitere Leute. Sie jubelten und riefen: »Hussa, hussa!« Doch Jonas blieb keine Zeit, sie
     zu betrachten, ehe die Kamera – oder was immer es sein mochte – näher heranzoomte. Durch die Tür, über einen Lehmfußboden,
     hin zu einem Bett   … wo eine Frau einen winzigen Säugling an die Brust drückte.
    »Mein liebes Kind«, flüsterte die Frau, deren Gesicht selbst im trüben Kerzenlicht vor Liebe glühte. »Meine kleine Virginia!«
    »NEIN!«, schrie jemand.
    Es dauerte einen Moment, ehe Jonas begriff, dass der Schrei nicht zu der Szene gehörte. Verärgert, von Katherine derart unterbrochen
     zu werden, sah er um sich. Doch Katherine neben ihm blickte genauso verwirrt um sich.
    Es war Andrea, die stille, gelassene Andrea, die nun mit offenem Mund und zornfunkelnden Augen aufsprang.
    »NEIN!«, schrie sie wieder. »Das bin ich nicht! Das ist nicht meine Mutter!«

Zwei
    Der »Fernsehbildschirm« wurde wieder zur blanken Wand.
    »Andrea«, sagte HK beruhigend. »Ich weiß, es ist schwer zu begreifen, aber du bist wirklich Virginia Dare. Das erste englische
     Kind, das in der sogenannten Neuen Welt geboren wurde. Willst du den DN A-Beweis sehen?«
    »Fantastisch«, redete Katherine dazwischen. »Ich wäre wahnsinnig gern Virginia Dare. Du bist so was wie das berühmteste Rätsel
     der amerikanischen Geschichte.« Sie sah zu HK auf. »Also, was ist aus Virginia Dare geworden? Ich meine – was soll mit ihr
     geschehen?«
    Jonas hätte seiner Schwester am liebsten einen Tritt verpasst. Vielleicht konnte er seinen Sessel dazu bringen, das zu tun,
     wenn er es richtig

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