Die Ausgesetzten
anstellte. Sah Katherine denn nicht, dass die Neuigkeit, wer sie wirklich war, Andrea regelrecht traumatisierte?
Begriff sie nicht, wie hart es für Andrea sein musste, zu wissen, dass sie gar nicht die war, für die sie sich immer gehalten
hatte?
Natürlich nicht. Katherine war kein verschollenes Kind der Geschichte. Sie war nicht adoptiert worden wie Andrea und Jonas.
Sie hatte immer gewusst, dass Mom und Dad ihre richtigen Eltern waren, in jeder Hinsicht.Sie hatte ihre eigene Identität nie in Zweifel ziehen müssen.
HK ignorierte Katherines Frage.
»Andrea?«, sagte er wieder.
Jonas, der sie nicht aus den Augen ließ, sah, wie sich eine Art Maske über ihr Gesicht legte. In einem Moment sah sie fuchsteufelswild
aus, als könnte sie gleich wieder losschreien, vielleicht sogar jemanden angreifen. Und im nächsten Augenblick war ihr Gesicht
glatt und leer, ohne jeden Ausdruck.
»Tut mir leid«, sagte sie sanft und lehnte sich in ihren Sessel zurück. »Ich war nur – tut mir leid. Sie können weitermachen.«
»Warte«, sagte HK. »Ich weiß, was wir dir zeigen sollten. Vielleicht die direkte Gegenüberstellung?«
Das mussten Anweisungen für den Fernsehbildschirm gewesen sein. Wieder erschien ein Bild auf der gegenüberliegenden Wand.
Dieses Mal war die neugeborene Virginia Dare, ein rotgesichtiger Säugling, noch deutlicher zu sehen. Es dauerte einen Moment,
ehe Jonas begriff, dass das Baby in einer seltsamen Zeitraffertechnik vor seinen Augen aufwuchs. Nach etwa einer Minute verdunkelte
sich der Bildschirm. Die nächste Aufnahme zeigte offensichtlich das gleiche Baby, das diesmal jedoch ein Mickymaus- T-Shirt trug.
Das Baby wuchs weiter und wurde zu einem Kleinkind mit Elmo-Sweatshirt, zu einem Kindergartenkind, das ein Märchenbuch durch
die Gegend schleppte, zu einer Sechs- oder Siebenjährigen mit einem Fußball in der Hand. Die Aufnahmen folgten so schnell
aufeinander,dass sie miteinander verschmolzen. Jonas hätte nicht sagen können, ab wann das Kind eindeutig als Andrea zu erkennen war –
mit acht vielleicht? Neun? Sie wuchs weiter, veränderte sich, reifte heran. Auf den letzten vorbeihuschenden Aufnahmen veränderte
sich Andreas Aussehen erneut, diesmal noch drastischer als beim Sprung vom Säugling im altmodischen Nachtkleid zum Baby im
Mickymaus- T-Shirt . Andrea wirkte auf sämtlichen Bildern nur noch traurig und verschlossen.
Die letzte Aufnahme hätte ohne Weiteres von einem Spiegel stammen können, hätte Andrea, so wie sie im Augenblick war, in einen
hineingesehen: bekleidet mit einem unscheinbaren grauen Sweatshirt über einem T-Shirt und Shorts (was Jonas ein wenig merkwürdig fand, da es zu Hause November gewesen war). Auf dem Bild wie in der Wirklichkeit
fielen ihr die Haare lang und glatt über die Schultern. Sie hatte die Lippen vorgeschoben, die Zähne zusammengebissen und
die Augen zu Schlitzen verengt.
»Stark!«, entfuhr es Katherine, die alles vergaß und wieder auf ihrem Sessel herumhopste. »Echt cool! Könnt ihr das auch für
mich machen? Zeigen, wie ich mich seit meiner Geburt verändert habe, meine ich?«
»Im Augenblick nicht, Katherine«, sagte HK. Er beobachtete Andrea. Er berührte ein Bedienelement an der Wand und die letzte Aufnahme von Andrea als Virginia Dare erschien
wieder: ein Baby mit Häubchen und spitzenverziertem Nachthemd. Daneben platzierte er das Bild von der kleinen Andrea im Mickymaus- T-Shirt . Dann vergrößerte er den Ausschnitt und zeigte die aufAndreas Babybildern abgebildete Umgebung. Auf beiden Aufnahmen wurde sie von einer Frau im Arm gehalten: links von Mistress
Dare, jetzt mit schmalem, verhärmtem Gesicht, die ihre Tochter aber dennoch liebevoll anblickte; rechts von einer kleinen,
muskulösen Frau mit Locken, die lächelnd auf das Baby in ihren Armen herabblickte.
Auf beiden Bildern wirkte die kleine Andrea so glücklich, dass Jonas sie praktisch glucksen hören konnte.
»Das könnten Sie auch mit Trickaufnahmen gemacht haben«, sagte Andrea angespannt. »Vielleicht haben Sie ja mit Photoshop gearbeitet.«
»Du weißt, dass wir das nicht getan haben«, entgegnete HK.
Eine einzelne Träne rollte Andrea über die Wange. Jonas’ Erfahrung mit weinenden Mädchen beschränkte sich mehr oder weniger
auf Katherine, die zu dramatischen Ausbrüchen neigte: »Oh-das-ist-ja-so-unfair!« In der fünften Klasse hatte sie Probleme
mit einigen Freundinnen gehabt, die gemein zu ihr gewesen waren, und
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