Tage des letzten Schnees: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition)
MAI
1
Am ersten Mai fiel der letzte Schnee.
Das hatte der Wetterbericht so vorhergesagt, und so war es gekommen. Lasse Ekholm steuerte den Wagen vom Parkplatz auf die Straße und betrachtete den Himmel, aus dem die dicken weißen Flocken fielen, die in diesem Monat nichts verloren hatten.
Er dachte darüber nach, dass im Zusammentreffen des ersten Tages mit dem letzten Schnee eine Symmetrie verborgen lag. Eine Symmetrie, die schlüssig und schön war, weil sie auf asymmetrischen Komponenten beruhte. Das Erste und das Letzte, Anfang und Ende, verschmolzen zu einer Einheit … allerdings nur unter der Voraussetzung, dass der Wetterbericht recht behalten und es tatsächlich der letzte Schnee sein würde, bevor der Sommer kam.
Der Wagen glitt über die weiche Schneedecke, und er öffnete das Handschuhfach, ohne die weiße Straße aus den Augen zu lassen. Er nahm die CD heraus, die Anna zusammengestellt hatte, Musik, mit der er nichts anfangen konnte, die er nicht verstand, aber Anna verstand sie und versuchte meistens, ihm zu erklären, worin der tiefere Sinn der hektischen Rhythmuswechsel bestand. Er legte die CD ein und wählte das einzige Stück, das er mochte, das mit Abstand ruhigste, dunkle Bässe auf einem warmen Klangteppich.
»Das gefällt mir«, sagte er immer zu Anna, wenn dieses Stück lief, und Anna lachte und antwortete, das sei wohl kein Wunder, da es sich um den Retro-Mix eines 80er-Jahre-Klassikers handle, und Lasse Ekholm fragte sich, woher sie diese Worte kannte – Retro-Mix … 80er-Jahre-Klassiker …
Er parkte auf dem weiten Platz vor der Eishalle und freute sich darauf, sie gleich zu sehen, während er durch den Flockenwirbel auf den Eingang zulief. Drinnen war es warm, und er hörte schon die durchdringende Stimme von Elina, der Trainerin, die es sich nicht hatte nehmen lassen, am ersten Mai, einen Tag nach dem Vapuu-Fest, wenn normale Menschen ihren Rausch ausschliefen, zum Training zu bitten. Und er hörte die kreischenden Stimmen der Mädchen, die sich herzlich wenig für Anweisungen zu interessieren schienen. Anna in ihrem viel zu großen Trikot jagte dem Puck hinterher, ohne dabei augenscheinlich taktischen Vorgaben zu entsprechen. Sie führte den Puck, zunächst erfolgreich, bis drei Gegenspielerinnen entscheidend die Laufwege verkleinerten und sie zu Boden fiel und sich das Knie hielt. Ekholm schloss die Augen und spürte die Angst, die er immer spürte, wenn er Anna zusah. Eine Angst, die der Freude darüber, dass sie so gerne Eishockey spielte wie er früher, entgegenstand.
Er dachte an die strengen Blicke, die Kirsti ihm zuwerfen würde, wenn sie den blauen Fleck verarzten und Anna in ungebrochen guter Laune ins Bett humpeln würde. Vielleicht würde er ein weiteres Mal versuchen, Kirsti davon zu überzeugen, dass er mit Annas Begeisterung für diesen Sport nicht das Geringste zu tun hatte, und Kirsti würde ihm ein weiteres Mal nicht glauben, obwohl es stimmte.
Er freute sich einerseits jedes Mal darüber, Anna spielen zu sehen, hatte aber andererseits vermutlich noch größere Angst als Kirsti davor, dass sie sich irgendwann verletzen würde, zumal ihn ihre Spielweise sehr an die erinnerte, die seine eigene gewesen war – auch er war immer da hingegangen, wo es wehtat, und hatte aus Prinzip den Puck nur abgespielt, wenn es sich gar nicht hatte vermeiden lassen.
Anna hatte zwei gute Tormöglichkeiten, während er zusah, und fiel noch drei Mal auf eine Weise aufs Eis, die ihn ein wenig ins Schwitzen brachte. Aber sie stand immer wieder auf und sagte »Ach, Papa«, als er sie am Ende des Trainings fragte, ob noch alle Knochen dran seien.
»Dann ist ja gut«, sagte er.
»Gar nicht gut. Ich habe zwei Mal die Latte getroffen. Und das ist ziemlich unwahrscheinlich, weil …«
»… die Querstange mit rund vier Zentimetern nur unwesentlich mehr Masse hat als der Puck, folglich ein Aufeinandertreffen des Pucks mit der Querstange nur in seltenen Fällen zu erwarten ist.«
»Genau«, sagte sie.
»Das heißt aber nicht, dass ein Torerfolg wahrscheinlich wäre, mit Abstand am wahrscheinlichsten ist es, dass der Schütze im Eishockey aufgrund der Abmessungen des Tores am …«
»… Goalie scheitert«, vervollständigte sie.
»Erzähle ich oft solches Zeug?«, fragte er.
»Ziemlich oft, Papa«, sagte sie. »Ich dusche und ziehe mich um, bis gleich.«
»Bis gleich«, sagte Lasse Ekholm. Er sah ihr nach und dachte wieder über den letzten Schnee am ersten Tag des Monats nach,
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