Die Aussortierten (German Edition)
geworden, Hausärztin genauer gesagt. Und ich lebe und arbeite wieder in meiner Heimat Konstanz mit Mann und zwei Kindern. Ich weiß übrigens, was aus dir geworden ist. Ich musste, um deine Adresse rauszukriegen, ja regelrecht recherchieren und hab mit einigen aus der Berliner Zeit gesprochen und dabei rausgekriegt, dass du Bulle geworden bist! Ausgerechnet du! Ich konnt’s ja gar nicht fassen. Wie ist denn dieser Sinneswandel zustande gekommen?“
„Aus der puren Not geboren. Eigentlich hätte ich gerne an der Uni weitergemacht. Aber das lief leider nicht alles so, wie ich mir das gedacht habe. Ich habe, um es kurz zu fassen, mit den Theorien des französischen Soziologen Pierre Bourdieu den akademischen Betrieb kritisch durchleuchtet, und eine wirklich originelle und anregende Dissertation zustande gebracht. Leider habe ich die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion der Damen und Herren Akademiker der Universität überschätzt. Anders ausgedrückt: Die Arschlöcher haben meine Arbeit nur mit ‚cum laude’ bewertet. Damit kannst du keine akademische Karriere machen“.
„Mensch, das tut mir aber leid. Du wärest wirklich der richtige Typ für die akademische Lehre gewesen.“
„Ja, aber es hat leider nicht sollen sein. Und ich musste dann zusehen, irgendwie mein Brot zu verdienen. Ich weiß nicht, ob du das noch mitbekommen hattest damals. Mein Vater starb, als ich noch mitten im Studium war. Er hat mir ein altes Haus und etwa 30.000 DM hinterlassen. Ich habe das Haus dann vermietet und dachte, ich sei fein raus. Weil ich ja auch noch Waisenrente bekam, solange mein Studium noch nicht abgeschlossen war. Das war aber ein großer Irrtum. Denn ich musste immer wieder in das Haus investieren, und das ging nur über Kredite. So ging die Miete für die Kredite drauf. Und die 30.000 waren auch schnell aufgebraucht. Die damaligen Konsumausgaben waren so etwas wie Trostpflaster, die ich mir damals gegönnt hatte.“
„Oh Gott!“
„Das kannst du laut sagen!“
„Wie ging es dann weiter?“
„Nach dem Studium, also nachdem ich promoviert habe, was ich mit einem befristeten Vertrag als wissenschaftlicher Mitarbeiter finanzieren konnte, habe ich mich mühselig über Wasser gehalten, war zeitweise aber auf Sozialhilfe angewiesen. Was nicht nur an sich scheiße war. Sondern auch deshalb, weil es ein riesiger bürokratischer Akt war. Mal hatte ich ja Jobs und Geld. Dann wieder nicht. In dieser Zeit habe ich dann auch Lehraufträge an der Polizeifachhochschule angenommen. Nur leben konntest du davon auch nicht. Tja, und dann hat’s mich gepackt. Ich wollte nicht nur Theoretiker sein, sondern auch in die praktische Polizeiarbeit. Da kam eben mein Habitus durch. Ich komm nun mal aus einer Polizistenfamilie. Und ob du willst oder nicht: Das sitzt in dir drin. Deshalb habe ich mich entschieden, selber Bulle zu werden. Und bin dann an der Fachhochschule, wo ich vorher als Dozent gearbeitet habe, selber Student geworden.“
„War das denn nicht komisch?“
„Och, es ging. Und in großen Teilen der Ausbildung war ich ja genauso unbeleckt wie die anderen Studierenden. Also das war nicht so schlimm. Die Dozenten haben sich natürlich zu Anfang gerne etwas lustig gemacht, und mich mit „Herr Doktor“ angesprochen. Aber das hat sich dann gelegt.“
„Tja und, was ist mit deinem politischen Weltbild?“
„Ach weißt du, die Polizei ist in gewisser Weise eine Enklave. Da findest du natürlich auch den kleinbürgerlichen, überangepassten und autoritätshörigen Beamten, diese bornierten Law and Order-Typen. Aber du findest eben auch einen ganz anderen Menschenschlag da, für die Polizeiarbeit Dienst an der Gemeinschaft ist, Leute mit einem demokratischen Ethos, die gerne Menschen helfen möchten. Aber ich gebe zu, ich musste eine ganze Zeit mit dem Gedanken schwanger gehen, bevor ich mich dazu entschließen konnte, wie mein Vater Polizist zu werden. Ein Gespräch mit meinem heutigen Chef, Hans-Jürgen Tauber, hat damals den Stein ins Rollen gebracht. Mein Vater war früher einmal sein Vorgesetzter, und ich kenne ihn schon seit meiner Kindheit. Den habe ich auf einem Seminar in Berlin wiedergetroffen, wo ich als Soziologe einen Vortrag gehalten habe. Er meinte damals ‚Wir brauchen Leute wie dich, Ulli. Leute, die nicht immer mit dem Strom schwimmen und ein demokratisches Ethos haben. Und du wärst im Apparat nicht allein. Es gibt dort noch mehr von deiner Sorte. Man
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