Die Australierin - Von Hamburg nach Sydney
verbreitete. Draußen tobte der erste Wintersturm, aber drinnen war es sehr heimelig.
Sollte sie die Briefe sofort lesen? Aber da kam auch schon Jule mit einem Tablett. »Die Mamsell hat mir noch eine Karaffe Wein für Euch mitgegeben. Sie meinte, das würde euch guttun.«
Emilia holte tief Luft, als die Schnüre endlich gelöst waren.
»Soll ich Euch noch die Haare flechten?«, fragte das Mädchen.
»Nein, das mache ich schon. Gute Nacht, Jule.«
Endlich war sie allein. Karamell lag vor dem Ofen, alle viere von sich gestreckt, und schlief. Ihre Pfoten zuckten rhythmisch. Was sie wohl träumen mochte?
Sie zog sich den Stuhl an den Ofen, stellte den Leuchter auf das kleine Tischchen daneben, trank ein wenig von der heißen Suppe und schenkte sich ein Glas Wein ein. Der Rotwein schimmerte samtig in dem Glas, sie nippte kurz und ließ die süße Flüssigkeit langsam an ihrem Gaumen hinunterrollen. Köstlich. Dann nahm sie die beiden Briefe und setzte sich. Welchen sollte sie zuerst lesen?
Der Brief ihrer Mutter schien zwischen ihren Fingern zu brennen, sie brach das Siegel und entfaltete den Bogen.
»Meine liebe Emma,
ich habe mich sehr gefreut, von dir zu hören. Wir alle sind wohlauf.Julius lernt fleißig und ist ein wahrer Schatz. Gerne begleitet er Vater in die Stadt und hört eifrig den Gesprächen zu. Mit dem Burschen und unserer Mamsell feilscht er um Süßigkeiten und andere Leckereien. Er wird ein wahrer Geschäftsmann werden. Im Herbst hatten wir alle schrecklichen Husten. Die Luft war sehr feucht und kalt. Ganz London hatte es erwischt, so schien es mir. Kaum eine meiner Freundinnen konnte aus dem Haus. Aber wir haben es alle überstanden, auch wenn dein Vater immer noch ein wenig unter einem Husten leidet. Seine Geschäfte führen ihn ja immer wieder in den Hafen und die Luft dort ist so ungesund.«
Emilia ließ den Bogen sinken. Ihr Vater war krank? Ob Onkel Hinrich das wusste? Und wieso hatte er kein warmes Kontor wie der Onkel und empfing dort die Geschäftspartner? Auch Onkel Hinrich fuhr zumeist einmal in der Woche zur Werft, zwei Tage war er dann für gewöhnlich unterwegs. Manchmal durfte Emilia ihn begleiten. Sie mussten auf die andere Seite der Elbe. Dort hatten sie ein Haus, in dem sie unterkamen. Es war schlicht, aber immer wohl gewärmt. Anders verhielt es sich bei der Ziegelei. Dort war sie nur einmal gewesen, es war alles feucht und matschig.
Aber ihr Vater war als Agent tätig, er sollte nicht durch den Hafen laufen, zumal man schreckliche Dinge von den Londoner Docks und jenen bei Gravesend hörte.
Sie nahm den Brief wieder auf.
»Kapitän Lessing überbrachte uns deine Post. Er sprach von dir und schien sehr angetan zu sein. Lessing erwähnte seine Familienbande. Ich hoffe jedoch, du bist nicht zu sehr von ihm eingenommen. Mir erschien er tumb. Das Haar nicht nach der Mode frisiert und auch sein Beinkleid, überhaupt seine ganze Erscheinung, wirkte altbacken und billig. Mag sein Großonkel auch ein großer Dichter gewesen sein, dieser Mann ist nur ein Kapitän unter der Flagge einer Reederei und noch nicht mal unter unserer.
Doch Tante Minna wird dies wohl wissen und dich gut behüten.
Mein liebes Kind, ich bin froh zu hören, dass du das Lyzeum beendet hast. Das weitere Jahr auf der Töchterschule wird dir noch einigeErkenntnisse bringen. Danach hat Tante Minna mein volles Vertrauen, dich zu schulen und in die Gesellschaft einzuführen.
Mein Kind, ich hoffe, du bist wohlauf und alles in Hamburg geht seinen geregelten Lauf. Sei immer lieb und nett zu Onkel und Tante, dankbar, dass du sie hast und bei ihnen sein darfst.
In Liebe
Deine Mutter«
Für einen Moment saß Emilia ganz still da, dann faltete sie den Bogen ordentlich zusammen, strich ihn glatt und legte ihn auf das Tischchen.
9. K APITEL
Eine ganze Weile blickte sie starr vor sich hin und dachte über die Worte der Mutter nach. Wieder erschien ihr der Brief kühl und distanziert. Sie machte sich Sorgen um den Vater, der immer all das tat, was sein Bruder von ihm erwartete. Lebte Vater überhaupt gern in England? Ihre Mutter, daran erinnerte Emilia sich noch, hatte nicht gehen wollen. Sie musste sich beugen. Doch inzwischen schien sie sich dort wohl zu fühlen. Aus ihren Briefen klang keine Sehnsucht nach Othmarschen, kein Heimweh. Und ihre Worte verrieten auch nicht, ob sie ihre Tochter vermisste. Julius entwickelte sich also prächtig. Er würde in die Firma einsteigen, genauso wie Jasper. Die beiden Cousins
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