Die Auswanderinnen (German Edition)
muss ich erst darüber nachdenken. Gib mir deine Nummer, ich werde dich in den nächsten Tagen zurückrufen.“
„Ja, gut. Überlege es dir“, antwortete Eva. „Ich werde ebenfalls noch einmal darüber nachdenken.“
Da fiel Jo Ann glücklicherweise doch noch eine Ausrede ein, mit der sie dieses Treffen vereiteln konnte: „Hier regnet es schon seit Wochen fast ununterbrochen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was hier für Wassermassen runterkommen. Es ist die reinste Sintflut!“
„Ja, und?“
„Ihr könnt mich nicht besuchen. Das ist völlig unmöglich. Hast du nicht in den Nachrichten gehört, wie schlimm die Überschwemmungen sind?“
„Klar! Sie berichten laufend von dem Hochwasser. Aber sie sagen auch, dass der Regen bald aufhören wird. Wie lang wird es dauern, bis man die Straßen wieder befahren kann? Johanna, das geht doch bestimmt ganz schnell und wir kommen sowieso erst Mitte Oktober, wenn die Spiele vorbei sind und Isabella sich an Sydney sattgesehen hat. Dann habt ihr bestimmt kein Hochwasser mehr.“
„Das mag ja sein, aber vorher könnt ihr auf keinen Fall kommen“, blockte Jo Ann ab, versprach aber trotzdem nochmals, sich zu melden und legte auf. Eva hatte leider Recht, der Regen würde nicht ewig dauern, doch bis Oktober konnte noch viel geschehen. Sie holte die Kanne mit dem inzwischen kalt gewordenen Tee, goss ihn aus und brühte neuen auf.
Dann setzte sie sich wieder ans Fenster, öffnete die Verpackung der Schokolade und begann bedächtig, eine Reihe nach der anderen zu verspeisen.
Draußen begannen die ersten fetten Tropfen zu fallen, die immer dichter wurden, bis schließlich eine undurchdringliche Regenwand fast waagerecht über den Hof fegte. Draußen war es urplötzlich Nacht. Jo Ann konnte nur noch bis zum Verandapfosten sehen, aber sie konnte hören, wie der Wind pfiff und der Regen auf das Blechdach trommelte. Doch solange der Wind nicht zum Orkan wurde, der das Dach und die einfachen Holzwände aus den Verankerungen riss und mit sich wirbelte, und solange das Wasser nicht zur reißenden Flut wurde, die sie alle zwingen würde, ihre Häuser zu verlassen, fühlte sie sich hier geborgen. Sie spürte eine warme Zufriedenheit in sich aufsteigen. Hier war sie Zuhause. Dies war ihr Dorf. Dieses Opalminen-Kaff am Ende der Welt. Wie sie es gehasst hatte, damals, als Kurt beschlossen hatte, Sydney zu verlassen und hierher zu ziehen. Aber sie wollte jetzt nicht an damals denken.
Wie es um diese Zeit wohl im Pub wäre? Wahrscheinlich hatten sich fast alle Dorfbewohner bereits dorthin geflüchtet, ehe der Regen so richtig begonnen hatte. Sie sollte sich nun wirklich bald entscheiden, ob sie lieber gemütlich im Trockenen sitzen bleiben oder ob sie doch noch zur Kneipe spurten wollte, um sich die dummen Sprüche der angetrunkenen Kneipenbesucher anzuhören und sich Johns Nähe auszusetzen. Wenn sie hier blieb, lief sie Gefahr, sich der Vergangenheit stellen zu müssen. Den alten Freunden von damals, Eva und Uwe, Isabella und Dieter, und, vor allem, ihrem verstorbenen Mann Kurt. Der hässliche Alptraum vom Nachmittag drang wieder in ihr Bewusstsein, und sie schüttelte sich angewidert.
Kurzentschlossen tätschelte sie den Kopf ihres Hundes und machte sich, in ihren braunen Drizabone gehüllt, auf den Weg zu Johns Kneipe. Auf ihren Schlapphut, der sie sonst vor Sonne und Regen schützte, hatte sie verzichtet, denn er würde ihr bei diesem Wind sowieso gleich vom Kopf gerissen werden. Nur wenig später trat sie pitschnass in den Vorraum der Kneipe, zog ihren Mantel aus und hängte ihn zu den anderen tropfenden Jacken und Mänteln.
Die Stimmung war, durch das Unwetter angeheizt, ganz wie sie erwartet hatte, auf einem Höhepunkt angekommen. Warum lösen Naturgewalten nur solch eine unbändige Lebenslust in uns aus, überlegte Jo Ann, während sie sich ihren Weg durch das Gedränge bahnte. Ist es das Wissen, dass wir ihnen hilflos ausgeliefert sind? Dass eine Katastrophe jeden einzelnen von uns, oder vielleicht sogar uns alle, plötzlich und grausam treffen kann? Dass einer verschont bleibt und dem Unglück entrinnen kann, während sein Nachbar, der bisher vom Glück begünstigt war, gerade alles verliert?
Kapitel 2
John spürte Jo Anns Gegenwart noch ehe er sie sah. So ging es ihm jedes Mal, seit sie damals, am Tag nach der Eröffnung, in seine Kneipe gekommen war. Schlagartig hatte er damals die Leere, die ihn sein Leben lang begleitet hatte, als Einsamkeit erkannt. Weder
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