Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
Unterhaltung mit mir von vornherein nicht eingelassen. Immer hatte ich das Gefühl, daß sie vor Erklärung und Aufklärung Angst hatten. Und es ist ja Tatsache, daß die Kranken, die den Ärzten ausgeliefert sind in den Krankenhäusern, niemals mit Ärzten in Kontakt, geschweige denn zu Erklärung und Aufklärung kommen. Die Ärzte schirmen sich ab, errichten die, wenn nicht natürliche, so doch künstliche Mauer der Ungewißheit zwischen den Patienten und sich. Die Ärzte sind ununterbrochen hinter dieser von ihnen als Mauer aufgerichteten Ungewißheit verschanzt. Ja sie operieren mit der Ungewißheit. Wahrscheinlich sind sie sich ihrer eigenen Unfähigkeit und also Machtlosigkeit bewußt und wissen, daß der Patient allein die Initiative zu ergreifen hat, will er seinen Krankheitszustand eindämmen oder aus seinem Krankheitszustand wieder herauskommen. Die wenigsten Ärzte geben zu, daß sie beinahe nichts wissen und ebenso beinahe nichts tun können. Die Ärzte, die hier im Sterbezimmer Visite machten, hatten ihre Patienten niemals aufgeklärt und hatten alle diese Patienten im Stich gelassen. Im medizinischen und im moralischen Sinn. Ihre Medizin war naturgemäß machtlos, ihre Moral wäre ihnen ein zu hoher Einsatz gewesen. Hier notiere ich, was im Kopf des Jünglings vorgegangen ist, der ich damals gewesen bin, nichts weiter. Später mag alles in einem anderen Licht erschienen sein, damals nicht. Damals hatte ich diese Gefühle, nicht die heutigen, damals hatte ich diese Gedanken, nicht die heutigen, damals hatte ich diese Existenz, nicht die heutige. Nach der Visite, ein Vorgang, der nur ein paar Minuten in Anspruch genommen hatte, waren die Patienten, die während der Visite wenigstens den Versuch gemacht hatten, sich in ihren Betten aufzurichten, was ihnen aber nur auf die hilfloseste Weise geglückt war, wieder in ihre Betten zurückgesunken, so auch ich. Ich fragte mich jedesmal, was habe ich jetzt wieder erlebt, was habe ich jetzt wieder gesehen? Und die Antwort war immer dieselbe: die Hilflosigkeit und die Stumpfsinnigkeit von Ärzten, die eine vollkommen in das Geschäft degradierte Auffassung von der Medizin haben und die sich in keinem Augenblick dieser erschütternden Tatsache schämen. Am Ende der Visite, wenn sie schon wieder an der Tür angekommen waren, hatten sich alle, auch die Schwestern, immer noch einmal umgedreht und sich dem der Tür gegenüberliegenden Bett zugewendet. In diesem Bett lag ein von chronischem Rheumatismus an allen seinen Gliedern, aber vor allem an Händen und Füßen vollkommen verkrümmter Gastwirt aus Hofgastein, der angeblich schon über ein Jahr lang in diesem Bett gelegen war und von welchem seit einem Jahr der Tod stündlich erwartet wurde. Dieser Gastwirt, auf drei, vier Polstern in seinem Bett hoch aufgerichtet, hatte jedesmal, wenn die Ärzteschaft und die Schwestern am Ende der Visite an der Tür angekommen waren, mit dem rechten Zeigefinger auf seine Stirn getippt, worauf die Ärzteschaft und die Schwestern regelmäßig in ein lautes Gelächter ausgebrochen waren, das mir viele Tage unverständlich gewesen war, weil ich die Ursache noch nicht kannte. Sie hatten jedesmal am Ende der Visite über den grausamen Scherz des Gastwirtes auflachen müssen. War ihr Gelächter ausgelacht, war die Visite vorbei. Der Gastwirt aus Hofgastein, ein vollkommen abgemagertes und dadurch auf groteske Weise in die Länge gezogenes Skelett, auf welchem die gelbe Haut nur noch notdürftig und auch dadurch wiederum auf groteske Weise klebte, war nicht wegen dieser rheumatischen Verkrüppelung im Krankenhaus, sondern wegen einer chronischen Nierenentzündung. Seit über einem Jahr hatte der Gastwirt zweimal wöchentlich an eine sogenannte künstliche Niere angeschlossen werden müssen, immer auch an dem Tag, an welchem ich punktiert wurde. Er hatte, denke ich, ein zähes Herz, und solange sein Witz nicht abstarb, war auch er nicht abgestorben, nicht tot, wahrscheinlich lebte er länger, als es den Ärzten und Schwestern recht war. Wenn sie schon nicht durch seinen Tod von ihm und von der durch ihn verursachten tagtäglichen Belastung befreit wurden, so durften sie sich wenigstens an seinem immer wiederkehrenden Witz mit dem rechten Zeigefinger erfreuen, der an keinem Tage, in welchem ich im Sterbezimmer gewesen war, seine Wirkung verfehlt hatte. Von diesem Gastwirt aus Hofgastein ist später noch einmal die Rede. Die Visite, der Höhepunkt an jedem Tag, war gleichzeitig immer die
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