Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
größte Enttäuschung gewesen. Kurz darauf kam das Mittagessen. Die Schwestern hatten nur drei oder vier Portionen auszuteilen, denn nur drei oder vier Patienten waren imstande, das Mittagessen einzunehmen, die übrigen waren mit heißem Tee oder heißem Obstwasser in Kürze abgefertigt. Ein mir in den ersten Tagen nach meiner Bewußtlosigkeit als dick und schwer aufgefallener Mann, von welchem ich nie ein Wort gehört hatte und der in der Zwischenzeit so wie alle andern bis auf die Knochen abgemagert war, hatte immer nur eine große Schüssel voll Äpfel zum Essen bekommen, und ich erinnere mich noch genau, wie der Mann, beinahe bewegungslos, jedesmal nach und nach die ganzen Äpfel auf dieser Obstschüssel aufgegessen hat, und zwar um abzuwassern. Von seiner schwarzen Personalientafel hatte ich schon bald, nachdem ich wieder bei Bewußtsein gewesen war, das Wort G ENERAL ablesen können, das unter seinen, wie ich mich erinnere, ungarischen Namen in Großbuchstaben geschrieben war. Lange Zeit hatte ich meine Aufmerksamkeit nur auf dieses eine Wort G ENERAL gerichtet und mich gefragt, ob, was ich die ganze Zeit als G ENERAL von der Tafel heruntergelesen hatte, auch wirklich das Wort G ENERAL gewesen war. Ich hatte mich nicht verlesen, der Mann war tatsächlich ein ungarischer General gewesen, ein Flüchtling wie Hunderttausende und Millionen andere auch, den es, wer weiß woher, bei Kriegsende nach Salzburg verschlagen hatte. Es war mir unvorstellbar gewesen, mit einem wirklichen General, der bei näherer Betrachtung auch noch genauso ausschaute wie ein General, in einem Zimmer zu sein. Der General hatte nicht ein einziges Mal Besuch bekommen, was darauf schließen ließ, daß er überhaupt keinen Menschen mehr hatte. An einem Nachmittag, an welchem ein plötzliches Schneetreiben das Sterbezimmer beinahe vollkommen verfinstert hatte, war er aufeinmal tot gewesen. Der Krankenhauspfarrer hatte ihm, nachdem er schon tot gewesen war, die Letzte Ölung gegeben. Die Prosekturmänner hatten einen stark abgemagerten Körper aus seinem Bett gehoben und in den Zinksarg hineingelegt, nicht ohne daß seine Knochen derart hart darin aufgeschlagen waren, daß es sogar die bis dahin schlafenden Patienten aufgeweckt hatte. Es war kaum zu glauben, daß es sich bei dem Toten um denselben Mann handelte, der noch zwei, drei Wochen vorher so dick gewesen war. Die Prosekturmänner waren mit dem Leichnam des Generals genauso verfahren wie mit allen anderen, die Arbeiter und Bauern, Beamte und, wie gesagt, ein Gastwirt gewesen waren und sicher alle sogenannte einfache Menschen. Es hatte, insofern sie seinen Tod überhaupt wahrgenommen hatten, bei allen sicher zur Nachdenklichkeit führen müssen, auf welche Weise unter ihnen ein wirklicher General verstorben war, wie auch mich diese Tatsache nachdenklich gemacht hatte. Das Auffallendste an diesem Menschen, der es, wer weiß unter welchen Umständen, zum General gebracht hatte, war seine Lautlosigkeit, nicht Schweigsamkeit, sondern absolute Lautlosigkeit gewesen, niemand hatte jemals etwas von ihm gehört, und er war auch niemals von irgendeinem Menschen angesprochen worden, und wenn die Schwestern oder die Ärzte etwas zu ihm gesagt hatten, so hatte er nichts erwidert. Möglicherweise hatte er auch nichts mehr verstanden. Kaum war er tot und abtransportiert, war das Wort G ENERAL auch schon von der Tafel gewischt, und ein paar Stunden, nachdem er sich in dem Bett, das ich so oft und so intensiv beobachtet hatte, aus der Welt entfernt hatte, hatte er einen Nachfolger. Auf das Wort G ENERAL war das Wort L ANDWIRT gefolgt, das seit einiger Zeit im Sprachgebrauch dieses Landes das Wort Bauer ersetzte. Neben diesem Bett war nur eine einzige Nacht ein sogenannter Marktfahrer aus Mattighofen gelegen. Der Mann war, was zu meiner Zeit überhaupt niemals außer in diesem einen Fall vorgekommen war, zu Fuß in das Sterbezimmer hereingekommen und von der Nachtschwester, die gerade ihren Dienst angetreten hatte, in das Bett eingewiesen worden. Er hatte sein Kleiderbündel unter dem Arm und hatte alles eher, nur keinen kranken Eindruck gemacht. Offensichtlich war er gerade von der sogenannten
Aufnahme
gekommen und hatte die erste Untersuchung im Krankenhaus hinter sich. Der Gastwirt aus Hofgastein, zwei Betten weiter, hatte sich sofort für ihn interessiert und ihm, dem unkundigen Neuen, Anweisungen für sein hier notwendiges und erwünschtes Verhalten gegeben, die beiden hatten sich sofort verstanden,
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