Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
erfundene Krankheit eine tatsächliche. Wir wissen nie, haben wir eine erfundene oder eine tatsächliche Krankheit. Wir können aus allen möglichen Gründen eine Krankheit haben oder erfinden und dann auch haben, weil wir immer eine tatsächliche Krankheit erfinden, die wir tatsächlich haben. Es wäre durchaus möglich, daß es überhaupt nur erfundene Krankheiten gibt, so mein Großvater, die als tatsächliche Krankheiten erscheinen, weil sie die Wirkung von tatsächlichen Krankheiten haben. Es sei die Frage, ob es überhaupt tatsächliche Krankheiten gebe, ob nicht alle Krankheiten erfundene Krankheiten seien, weil die Krankheit an sich eine Erfindung sei. Wir könnten auch ruhig sagen, daß wir unsere beiden Krankheiten für unsere Zwecke, die möglicherweise und wahrscheinlich denselben Zweck verfolgten, erfunden hätten. Und es sei unmaßgeblich, ob er zuerst die seine und erst dann ich die meine erfunden habe oder umgekehrt. Wir hielten uns jetzt, indem wir uns in dem Krankenhaus aufhielten, nicht möglicherweise, sondern ganz sicher in dem für uns beide lebensrettenden Denkbezirk auf, so er. Es war klar, daß er, was er jetzt gesagt hatte, wieder nur als eine Spekulation bezeichnete. Ich hatte dieser Spekulation ohne weiteres folgen können. Mein Genesungsprozeß war fortgeschritten. Jetzt hatte ich den Beweis. Die Visite war mir immer nur eine vorgezogene Totenbeschau gewesen. Sie hatte sich an jedem Tage gegen halb elf oder elf mehr oder weniger wortlos vollzogen, die Ärzte hatten, weil es sich für sie ja bereits um Tote handelte, an welchen sie offensichtlich teilnahmslos vorbeigehen mußten, an diesen Patienten ihre Kunst überhaupt nicht mehr angewendet, alles an ihnen war hier nichts mehr als die gewohnte und letzten Endes schon zur kalten Routine gewordene Passivität in gebündelten Ärztekitteln vor dem hier alles beherrschenden Tode gewesen, sie hatten auf mich den Eindruck gemacht, als hätten sie mit diesen in ihren Eisenbetten verlorenen Menschen, die zwar für die Ärzte schon tot, für mich aber noch immer, und zwar in der erbarmungswürdigsten Weise und unter den qualvollsten, erniedrigendsten Umständen existiert haben, nichts mehr zu tun gehabt, eine lästige Prozedur hatten sie hier in dem sogenannten Sterbezimmer absolvieren müssen. Diese alten Menschen im Sterbezimmer durften, so mußte ich, wenn ich die Ärzte bei der Visite beobachtete, denken, unter keinen Umständen mehr in das Leben zurück, sie waren schon abgeschrieben und schon aus der Menschengesellschaft abgemeldet, und als hätten die Ärzte die Verpflichtung gehabt, das um keinen Preis zu verhindern, entzogen sie in jeder ihrer Handlungen diesen nurmehr noch auf sie, die Ärzte, angewiesenen erbärmlichen Menschen im Sterbezimmer durch Untätigkeit und Gefühls- und Geisteskälte das Leben. Die Medikamente, die hier in dem Sterbezimmer von den Ärzten verschrieben worden waren, waren keine Heilungsmittel, es waren im Grunde nichts mehr als nur Sterbemittel, die das Sterben und den Tod dieser Patienten in jedem Falle beschleunigten, wie auch die Infusionsflaschen über den Köpfen dieser Patienten nichts anderes als nur gläserne Todesbeschleuniger waren, die einen Heilungswillen dokumentieren und, wie ich schon einmal gesagt habe, auf theatralische Weise tatsächlich darstellen sollten, aber in Wahrheit nichts anderes waren als die gläsernen Markierungen des gekommenen Lebensendes. Eine durch das Verhalten der Gesellschaft wahrscheinlich gerechtfertigte Verlegenheitslösung war diese Visite immer gewesen, die täglich die Ärzte, an jedem Freitag an ihrer Spitze auch den Primarius, in das Sterbezimmer geführt hatte. Die Schwestern mochten auch bei dieser Gelegenheit nichts anderes im Kopf gehabt haben als das Platzproblem, und es hatte den Anschein, als warteten sie nur darauf, daß sich die Betten leerten. Ihre Gesichter waren so abgehärtet wie ihre Hände, und es war in ihnen kein, nicht das geringste Gefühl mehr zu entdecken gewesen. Sie hatten hier schon Jahrzehnte ihre Arbeit gemacht und waren nurmehr noch exakt funktionierende Krankenversorgungsmaschinen im Vinzentinerinnenkittel. Es war ihnen anzusehen, daß sie über ihren Zustand verbittert und dadurch noch unzugänglicher für das, was die Seele genannt wird, waren. Sie konnten überhaupt keine Seelenbeziehung mehr haben, weil sie das, was sie ununterbrochen als ihre wichtigste Aufgabe anzuschauen hatten, die Rettung der Seele, in Gemeinschaft mit der Kirche
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