Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
glücklichen
Tod ohne Sterben
. Es war in der Natur des Marktfahrers aus Mattighofen gelegen, daß er auf diese Weise gestorben war, hatte ich gedacht, als sie ihn abholten. Dieser Mensch hatte keinen anderen Tod haben können. Ich selbst hatte mich dabei ertappt, daß ich dem Marktfahrer seinen Tod neidete, weil ich mir nicht sicher sein konnte, einmal auf diese plötzliche, vollkommen schmerzfreie Weise von einem Augenblick auf den andern in die Vergangenheit entkommen, vorbei zu sein. Schließlich wird den wenigsten ein Tod ohne Sterben zuteil. Wir sterben von dem Augenblick an, in welchem wir geboren werden, aber wir sagen erst, wir sterben, wenn wir am Ende dieses Prozesses angekommen sind, und manchmal zieht sich dieses Ende noch eine fürchterlich lange Zeit hinaus. Wir bezeichnen als Sterben die Endphase unseres lebenslänglichen Sterbeprozesses. Wir verweigern schließlich die Bezahlung der Rechnung, wenn wir uns um das Sterben herumdrücken wollen. Wir denken an Selbstmord, wenn wir uns die Rechnung, die uns eines Tages präsentiert wird, vor Augen halten, und suchen dabei in ganz gemeinen und niedrigen Gedanken Zuflucht. Wir vergessen, daß das, was uns betrifft, ein Glücksspiel ist, und enden dadurch in Verbitterung. Nichts als die Hoffnungslosigkeit ist uns am Ende offen. Das Resultat ist das Sterbezimmer, in welchem gestorben wird, endgültig. Alles ist nichts als Betrug gewesen. Unser ganzes Leben, wenn wir es genau nehmen, nichts als ein schäbiger, schließlich vollkommen abgerissener Veranstaltungskalender. Davon freilich wußte der Marktfahrer aus Mattighofen nichts, aber möglicherweise der Gastwirt aus Hofgastein. Der Gedanke ist ein absurder. Einen ehemaligen Geldbriefträger aus Oberösterreich hatte ich auf die folgende Weise sterben gesehen: mehrere Tage in einem der beiden den sogenannten Renitenten vorbehaltenen Gitterbetten vor mir, und zwar in dem fensterseitigen, völlig zusammengekrümmt liegend, hatte der kleine Mann mit seinem weißen Haarschopf niemals etwas gesagt, und ich weiß nicht, ob er nicht (oder nicht mehr) reden konnte oder nicht wollte. Er hatte seinen Körper, nachdem er in sein Bett gelegt worden war, auf die linke, mir zugewandte Seite gedreht und war dann in dieser Stellung geblieben. Ich beobachtete, wenn ich ihn anschaute, einen kleinen knabenhaften Kopf, in welchem sich nurmehr der Mund bewegte, der Geldbriefträger hatte auf nichts mehr reagiert, und wenn er gewaschen wurde, hatte er die ganze, bei ihm nur oberflächlich vorgenommene Prozedur in der allerkürzesten Zeit über sich ergehen lassen. Er hatte auch, wie ich mich erinnere, keine Nahrung mehr zu sich genommen. Wenn er Besuch bekommen hatte, war dieser Besuch angehalten gewesen, sich auf das Kürzeste zu fassen, die Besucher hatten auf ihn eingeredet, aber keinerlei Antwort mehr erhalten. Es war für mich keine Frage, der Mann mußte jeden Augenblick sterben, manchmal war es mir, als wäre er bereits tot, daß ich also seinen letzten Atemzug übersehen hatte, aber dann hatte ich, durch den Blick auf seinen Mund, durch welchen er atmete, die Gewißheit, daß er noch lebte. In die Gitterbetten sind nur Männer gekommen, von welchen man erwartete, daß sie nur noch die allerkürzeste Zeit lebten, man rechnete bei ihnen nur noch mit Stunden, höchstens Tagen. Der Geldbriefträger, seine Profession hatte der immer am besten informierte verkrüppelte Gastwirt aus Hofgastein ausgeplaudert, war auch so klein wie ein Knabe gewesen, alles an ihm war, obwohl in hohem Alter, knabenhaft gewesen, der volle Haarschopf auf seinem Kopf war sicher noch der gleiche Haarschopf, den er mit siebzehn oder achtzehn Jahren gehabt hatte, er war nur, vielleicht urplötzlich, über Nacht einmal, wahrscheinlich in der Lebensmitte, weiß geworden. Ich denke, der Geldbriefträger ist weit über achtzig gewesen, und doch war alles an ihm knabenhaft. Wenn ich ihn beobachtete, hatte ich den Eindruck, er wolle nicht mehr auf der Welt sein und sie nicht mehr sehen, denn er machte seine Augen nicht mehr auf, und seine Körperstellung, die ununterbrochen angespannte äußerste Zusammenkrümmung seines Körpers, deutete auch darauf hin, daß er ununterbrochen den Versuch machte, sich am Ende seines Lebens vollkommen zu verkrümmen und auf diese Weise nicht mehr in die Welt zurückkehren zu müssen. Wenn im Badezimmer Platz gewesen wäre, hätten die Schwestern ihn längst aus dem sogenannten Sterbezimmer hinaus- und ins Badezimmer
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