Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
der Ärzte geklammert, daran, daß ich nicht glauben hatte können, daß mich die Ärzte wissentlich der Gefahr aussetzten, im Vötterl lungenkrank zu werden. So war ich fast ununterbrochen mit dem Gedanken beschäftigt, ob die Ärzte, die mich nach Großgmain geschickt hatten, tatsächlich so kopflos und in der Sache, um die es ging, ebenso niederträchtig und verantwortungslos gewesen waren, wie ich sehr oft hatte glauben müssen, oder nicht. Sie waren so kopflos und ebenso niederträchtig und verantwortungslos gewesen, wie sich später gezeigt hat. Sie hatten den jungen, um seine Gesundheit kämpfenden Menschen tatsächlich in ihrer Kopflosigkeit und Niederträchtigkeit und Verantwortungslosigkeit, indem sie ihn nach Großgmain geschickt hatten, nicht in die Heilung, sondern beinahe in den Tod geschickt, doch davon nichts. Mein Vertrauen in mich war größer gewesen als das Mißtrauen gegen die Ärzte, und so hatte ich doch immer wieder fest daran denken dürfen, schließlich auch aus dem Vötterl eines Tages, ohne Schaden zu nehmen und tatsächlich gesund hinaus und nach Hause gehen zu können. Die frische Gebirgsluft, die auch in der Nacht durch die offenen Fenster hereinströmen hatte können, hatte mir gut getan. Die Meinigen waren schon bald nach meiner Ankunft im Vötterl erschienen und hatten mir das für den Aufenthalt Notwendige mitgebracht, darunter auch ein paar Kleidungsstücke und unter diesen solche, die von meinem Großvater waren und die ich anziehen hatte können. Schwach in den Beinen und mit einem mehr zur Übelkeit als zur Klarheit neigenden Kopf, hatte ich vor meiner Mutter diese Kleidungsstücke probiert und war dann wieder zu Bett gegangen. Es war mir, nachdem meine Mutter wieder gegangen war, möglich gewesen, diese von dem Großvater hinterlassenen Kleidungsstücke, die ich an ihm geliebt hatte und die jetzt mir gehörten, von meinem Bett aus durch die offenstehende Kastentür zu beobachten, stundenlang war ich um eine Verlängerung dieses Vergnügens bemüht gewesen. Die Tage im Vötterl hatten sich zum Unterschied von den Tagen im Krankenhaus, in welchem sie sehr schnell vergangen waren, in die Länge gezogen, im Zimmer war es eine beinahe ununterbrochen ereignislose Zeit gewesen, ausgefüllt mit zuerst zaghaften, dann schon eingehenderen Unterhaltungen mit meinem Mitpatienten, von welchem ich nach und nach auf schließlich ziemlich rücksichtslose Weise die ganze Lebensgeschichte, am Ende auch die Krankengeschichte in Erfahrung gebracht hatte. In der ersten Zeit noch mit keinerlei, dann nach den ersten Tagen mit aus Salzburg mitgebrachter, gewünschter Lektüre, wie ich mich erinnere, habe ich in Großgmain angefangen, mir die mir bis dahin verschlossene sogenannte Weltliteratur zu öffnen, ich war in diesem in Großgmain aufeinmal in mir gleichsam über Nacht reif gewordenen Entschluß nach keinerlei Rezept vorgegangen und hatte von den Meinigen nur gewünscht, daß sie mir jene Bücher aus dem Bücherkasten meines Großvaters nach Großgmain herausbringen sollten, von welchen ich wußte, daß sie im Leben meines Großvaters von allererster Bedeutung gewesen waren, und von welchen ich annahm, daß ich sie jetzt verstehen könnte. Auf diese Weise war ich zuerst mit den wichtigsten Werken von Shakespeare und Stifter, von Lenau und Cervantes bekannt geworden, ohne daß ich heute sagen könnte, daß ich diese Literatur damals tatsächlich in ihrem ganzen Reichtum verstanden hätte, aber ich habe sie mit Dankbarkeit und mit der größten Verständnisbereitschaft aufgenommen und meinen Gewinn gehabt. Ich hatte Montaigne gelesen und Pascal und Peguy, die Philosophen, die mich später immer begleitet haben und die mir immer wichtig gewesen sind. Und selbstverständlich Schopenhauer, in dessen Welt und Denken, naturgemäß nicht in dessen Philosophie, ich noch von meinem Großvater eingeführt worden war. Diese Lektüre, oft bis tief in die Nacht hinein fortgesetzt, war immer Anlaß gewesen für Auseinandersetzungen mit meinem Mitpatienten, der auf seine Weise und für seine Verhältnisse, die Literatur und die Philosophie, noch mehr aber natürlich das Philosophieren betreffend, eine gute Ausbildung hinter sich gehabt hatte. Ich hatte mit meinem Zimmergenossen Glück gehabt. Auch hatte ich mit der Zeit wieder Lust bekommen, Zeitungen zu lesen, wenngleich ich von dieser Lektüre immer gleich abgestoßen gewesen war, was aber nicht verhindern hatte können, daß ich schließlich wieder jeden Tag
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