Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
von neuem in ihnen gelesen habe, schon damals war ich ganz und gar diesem alltäglich sich wiederholenden, jetzt, wie ich weiß, lebenslänglichen Mechanismus verfallen gewesen, Zeitungen zu besorgen und zu lesen und von ihnen immer abgestoßen zu sein. Wie mein Großvater, der sie genauso wie ich zeitlebens verabscheut hatte, war auch ich jener Zeitungskrankheit verfallen, die unheilbar ist. So waren die Großgmainer Tage zwischen Bücher- und Zeitunglesen und Philosophieren und dann wieder alltäglichen Gesprächen zwischen mir und meinem Zimmergenossen ausgefüllt gewesen, aber naturgemäß war zuvorderst von Krankheit und Tod gesprochen worden, und einige Abwechslung hatten natürlich immer wieder plötzliche und unvorhergesehene Zwischenfälle im Vötterl hervorgerufen, Ankünfte, Abreisen, Todesfälle und die mit den wöchentlichen Untersuchungen und Durchleuchtungen zusammenhängenden Fragen und Antworten und Verordnungen und
Verhaltensmaßregeln
. Waren meine Zweifel über meinen tatsächlichen Krankheitszustand auch in keinem einzigen Moment auszuräumen gewesen und fürchtete ich auch immer den Blick in die Zukunft, so war ich doch im Vötterl auch geborgen gewesen, dem Aufenthalt im Krankenhaus in der mir noch immer sehr weit entrückten Stadt letzten Endes und, wie mir schien, auf die bestmögliche Weise entronnen. Bei Tag hatte ich den Alptraum verdrängen, in der Nacht aber seine umso verheerenderen Bilder nicht ersticken können, denn in den Nächten war ich ihm ausgeliefert. Manchmal war ich aufgewacht, aufschreiend, wie mir von meinem Zimmergenossen gesagt worden war. Dieser hatte schon bald die Aussicht, nach Hause gehen zu können, und bereitete sich über eine Reihe von einschlägigen Büchern auf die Wiederaufnahme seiner Studien an der Wiener Technischen Hochschule vor. Er war schon im letzten Herbst aus diesen Studien herausgerissen gewesen, zuerst in Wien, dann in Linz, schließlich in Salzburg im Krankenhaus behandelt und Ende Feber nach Großgmain gebracht worden. Seine Eltern hatten ihn regelmäßig besucht. Sie hatten ein, nach seiner Beschreibung, sehr schön an der Südseite des Mönchsberges gelegenes Haus besessen, sein Vater war ein höherer
Eisenbahningenieur
gewesen, darunter kann ich mir noch heute nichts vorstellen. Er hatte das gehabt, was ich niemals gehabt habe, ein sogenanntes geordnetes Familienleben, welchem alles untergeordnet gewesen war. Manchmal hatte ich den Eindruck, durch die Tatsache, daß ich ein solches Familienleben niemals gehabt und auch niemals gekannt habe, in einem entscheidenden Nachteil zu sein, aber dann war ich doch immer wieder, wenn ich es mir genau überlegte, von einem solchen Familienleben abgestoßen gewesen. Ich wünschte es nicht. Seine Krankheit war genausowenig wie die meinige exakt definiert, die Ärzte hatten auch in seinem Fall mehr herumgeredet als konstatiert und aufgeklärt. Er hatte aber keine Rippenfellentzündung, überhaupt keine akut aufgetretene Krankheit, sondern, so seine Bezeichnung,
einige verdächtige Schatten auf dem linken unteren Lungenflügel
gehabt, die auf dem Röntgenbild einmal deutlich, dann wieder überhaupt nicht zu sehen gewesen waren, seine Krankenhausaufenthalte waren alles in allem nur sogenannte vorbeugende Maßnahmen gewesen, die mehr von seinen Eltern als von seinen Ärzten gefordert worden waren. Selbst jetzt, wo er schon an seine baldige Entlassung auch aus Großgmain gedacht hatte, war er einmal mit der Bemerkung, die Schatten seien da, dann wieder mit der entgegengesetzten, die Schatten seien nicht da, aus dem Röntgenraum in das Zimmer heraufgekommen. Die Ärzte verunsicherten ihn, aber er, schließlich auch seine Eltern, setzten schließlich alles Mögliche daran, daß er wieder ins Leben und an seine Studien gehen konnte. Ich zweifelte, wenn ich ihn beobachtete und vor allem wenn ich ihn darüber reden hörte, nicht an seiner Begabung für das Fach, das er sich ausgesucht hatte, die Architektur. Aber es hatte naturgemäß auch immer wieder eine Grenze des Verständnisses zwischen ihm und mir gegeben. Wenn wir an diese Grenze gekommen waren, hatten wir ganz einfach unsere Unterhaltung abgebrochen und waren in unsere, und das heißt diametral entgegengesetzte Lektüre geflüchtet. Ich war es so lange nicht mehr gewohnt gewesen, mich mit einem jungen Menschen zu unterhalten, es hatte eine Zeitlang, ein paar Tage, gedauert, mich auf die Tatsache, daß ich aufeinmal wieder mit einem Jungen, noch dazu beinahe
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