Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
denselben Weg zurück. Schon am nächsten Tag, weil ich jetzt ausprobiert hatte, wie leicht es war, über die sogenannte Grüne Grenze zu gehen, habe ich an derselben Stelle die Grenze überquert und bin weiter und weiter und schließlich bis in das vier oder fünf Kilometer entfernte Reichenhall hineingegangen und habe auf diese Weise zum erstenmal in meinem Leben die Geburtsstadt meiner Großmutter aufgesucht. Diese Grenzgänge hatten mich natürlich sofort an jene ein paar Jahre zurückliegenden erinnert, die ich zu der Zeit unternommen hatte, in welcher die Meinigen noch in Traunstein gewesen waren, während ich in das Salzburger Gymnasium gegangen bin. Jetzt hatte ich keine Angst vor dem Gefaßtwerden, es wäre mir vollkommen gleichgültig gewesen. Ich bin beinahe täglich, weil die von mir so genannten bayrischen die schöneren und die interessanteren Spaziergänge gewesen waren, über die Grenze und nicht ein einziges Mal gefaßt worden. Ich erinnere mich, daß ich eines Tages sogar den Mut gehabt habe, erst gegen neun Uhr am Abend und also nach dem Nachtmahl über die Grenze zu gehen, weil ich herausbekommen hatte, daß um halb zehn im Kurpark ein sogenanntes
Kurkonzert
stattfinden sollte, und ich hatte mir dieses Kurkonzert tatsächlich und bis zum Ende angehört und war erst gegen Mitternacht wieder im Vötterl gewesen, völlig unbemerkt. Dieses Unternehmen war nur möglich gewesen, weil ich allein im Zimmer gewesen war und ich die Schliche ausfindig gemacht hatte, die es ermöglichten, vollkommen unentdeckt gegen neun aus dem Vötterl hinaus- und genauso unentdeckt gegen zwölf wieder in das Vötterl hineinzukommen. Nichts beweist besser, wie gut ich in dieser Zeit schon wieder beisammen war, als diese ausgedehnten Spazier- und letzten Endes immer noch abenteuerlichen Grenzgänge. Nach und nach waren mir die Medikamente entzogen worden, die Untersuchungen hatten eine tagtägliche, kontinuierlich fortschreitende Besserung meines Allgemeinzustands gezeigt, die Aufmerksamkeit des Röntgenologen war naturgemäß auf die Lunge gerichtet, auf welcher aber, so der Röntgenologe, keinerlei Krankheitsanzeichen sichtbar gewesen waren. Meine Zweifel waren geblieben, meine Angst, tatsächlich lungenkrank zu werden, war in Kenntnis meiner unmittelbaren Umgebung im Vötterl vergrößert. Unausgesprochen war diese Angst auch immer zwischen mir und den Meinigen gewesen und hatte sich auch in ihnen, vor allem meine Mutter betreffend, verstärkt. Gegen diese Tuberkuloseangst hatte es kein Mittel gegeben. Einerseits waren sie für die Möglichkeit, daß ich mich hier im Vötterl tatsächlich auf Kosten der Krankenkasse erholen hatte können,
gesundatmen
, wie es meine Mutter bezeichnet hatte, dankbar, andererseits war ihre Befürchtung, daß sich dieser Großgmainer Aufenthalt als großer Fehler und für mich lebensschädlich herausstellen könnte, natürlich in ihren Köpfen nicht zu ignorieren gewesen. Letzten Endes war es für uns alle, wenn wir schon daran denken hatten müssen, das Vernünftigste gewesen, nicht darüber zu reden. Die Idylle, in welcher ich, leider als kranker und nicht als gesunder Mensch, in dieser Zeit gelebt hatte, ohne die Vorzüge dieser von den Bergen schützend umschlossenen Gegend genießen und die damals an diesem Orte noch vollkommen unberührte Natur in jeder Hinsicht ausnützen zu können, hatte in ihrem Zentrum, naturgemäß vor der Öffentlichkeit nach Möglichkeit und mit allen Mitteln verborgen, wie jede Idylle ihre Kehrseite gehabt, ihren Widerspruch, ihr
Höllenloch
. Wer in dieses
Höllenloch
hineinschaute, mußte sich vor dem tödlichen Übergewicht in acht nehmen. Was mich betrifft, war ich aber hier, im Vötterl, nachdem ich durch die Hölle des Salzburger Landeskrankenhauses gegangen war, dieser tödlichen Gefahr nicht mehr ausgesetzt. Ich war ganz einfach tatsächlich über den Berg, und meine Hilfsmittel waren schon zahlreich. Die Initiative war längst von
meinem
Kopf ausgegangen. Meine Bibliothek in meinem Zimmer war schon auf mehrere Dutzend Bücher angewachsen gewesen, ich hatte den
Hunger
von Hamsun, den
Jüngling
von Dostojewski und
Die Wahlverwandtschaften
gelesen und mir, wie mein Großvater das sein ganzes Leben lang praktiziert hatte, zu meiner Lektüre Notizen gemacht. Den Versuch, ein Tagebuch zu führen, hatte ich sofort wieder aufgegeben. Ich hätte im Vötterl mit allen möglichen Leuten Kontakt haben können, aber ich hatte keinen Kontakt gewünscht, der Umgang
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