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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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jetzt schon über eine Woche verscharrt liege. Der März und der April seien jene Monate, in welchen die meisten Lungenkranken, oft von einem Augenblick auf den andern, sterben, die Friedhöfe auf der ganzen Welt seien ein Beweis dafür. Indem er immer nur von Lungenkranken gesprochen hatte, war ich schließlich darauf gekommen, daß im Vötterl tatsächlich nur Lungenkranke untergebracht waren. Allein das Wort
lungenkrank
hatte mich immer entsetzt gehabt. Jetzt hatte ich es den ganzen Tag so oft zu hören bekommen, daß es mir zur Gewohnheit geworden war. Tatsächlich handelte es sich beinahe ausschließlich um Lungenkranke, die hier im Vötterl stationiert waren. Um der Abschreckung zu entgehen, hatten die dafür Verantwortlichen, wie gesagt, das Vötterl als
Erholungsheim für an den Atmungsorganen Erkrankte
bezeichnet, auf allen Papieren war immer nur von
Atmungsorganen
die Rede gewesen, niemals von der Lunge, aber Tatsache war, daß das Vötterl beinahe ausschließlich Lungenkranken und zu einem Großteil den unheilbaren und schon aufgegebenen Lungenkranken vorbehalten gewesen war. In meiner Unwissenheit hatte ich meine eigene Krankheit, wahrscheinlich in Anwendung eines lebensnotwendigen Selbstschutzes, nicht als Lungenkrankheit klassifiziert, obwohl naturgemäß diese meine Krankheit nichts anderes als eine Lungenkrankheit gewesen war, schon von Anfang an. Aber unter einem Lungenkranken hatte ich tatsächlich etwas anderes verstanden, und ein Lungenkranker war ja auch ein anderer, ich war im exakt-medizinischen Sinne nicht lungenkrank, obwohl ich tatsächlich lungenkrank gewesen war, ich war aber kein Lungenkranker. Ich hatte aber doch Angst gehabt, hier in dem mit Lungenkranken und, wie gesagt, mit schwer Lungenkranken angefüllten Vötterl lungenkrank zu werden, die meisten dieser Lungenkranken im Vötterl hatten die offene und also die für die Umwelt gefährliche Lungentuberkulose, gegen die zu diesem Zeitpunkt, neunzehnhundertneunundvierzig, vorzugehen noch ziemlich aussichtslos war. Ein Lungenkranker hatte damals noch wenig Aussicht, davonzukommen. Es war mir von allem Anfang an, von dem Augenblick an, in welchem ich die Gewißheit hatte, daß das Vötterl mit Menschen angefüllt gewesen war, die
die offene Lungentuberkulose
hatten, als eine Unglaublichkeit erschienen, mich in das Vötterl einzuweisen. Jetzt hatte ich natürlich begriffen, warum die mich mit der Hausordnung bekanntmachende Schwester am ersten Tag gesagt hatte, ich dürfe in kein Geschäft im Ort, in kein Wirtshaus, nicht mit den Kindern sprechen, sie hatte mich wie einen Lungenkranken eingeführt und behandelt. Ich war an der Lunge erkrankt, aber ich war nicht lungenkrank, und die Ärzte hätten mich nicht in das Vötterl einweisen dürfen. Den Meinigen hatten sie davon gesprochen, ich werde
in ein Erholungsheim
überstellt, nichts weiter, jetzt waren auch sie mit der Tatsache konfrontiert, daß ich in einem mit Lungenkranken überfüllten Haus untergebracht und also in jedem Fall einer Tuberkuloseansteckung ausgesetzt war. Denn jeder im Vötterl ist naturgemäß direkt oder indirekt mit allem in Berührung gekommen, und die Ansteckungsgefahr war natürlich in dem sogenannten Röntgenraum und in den Waschräumen und in den Badezimmern, in welchen immer wieder alle, ob ansteckend oder nicht, zusammengekommen waren, am größten. Wahrscheinlich, so denke ich heute, habe ich mir die Tuberkulose und die letzten Endes schwere eigene Lungenkrankheit dort im Vötterl in Großgmain geholt, denn in dem damals bis auf das Äußerste geschwächten Zustand, in welchem ich nach Großgmain gekommen war, hatte ich naturgemäß keinerlei Immunität haben können, und mein Gedanke ist heute tatsächlich, daß ich nach Großgmain gekommen bin, um mir meine spätere schwere Lungenkrankheit, meine Lebenskrankheit, zu holen, nicht um mich auszukurieren und gesund zu werden, was mir die Ärzte versprochen hatten, aber davon nicht jetzt. In den ersten Tagen und Wochen im Vötterl war ich
kein Lungenkranker
gewesen. Meine Angst, ein solcher Lungenkranker wie die anderen im Vötterl zu werden, war aber von dem Augenblick an, in welchem ich von der Tatsache, daß hier fast nur Lungenkranke untergebracht waren, erfuhr, die größte gewesen. Fortwährend hatte ich in dieser Angst zu existieren, wachte ich in dieser Angst auf, schlief ich mit dieser Angst ein. Andererseits hatte ich mich doch immer wieder an die in mir noch nicht ganz ad absurdum geführte Kompetenz

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