Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
Mahlzeiten zu ganz genau festgesetzten Zeiten, war ich alles in allem in Ruhe gelassen und konnte ich mich einmal tatsächlich ausschlafen, was mir zuhause schon wochenlang nicht mehr möglich gewesen war, keiner von uns hatte mehr schlafen können, alles war auf die todkranke Mutter konzentriert gewesen, die ununterbrochen medizinisch versorgt werden mußte. Der Mann meiner Mutter, der Vormund, und meine Großmutter hatten sich im wahrsten Sinne des Wortes aufgeopfert, vollkommen selbstlos, alles auf sich genommen, was sonst nur in einer Klinik zu leisten ist, beispielsweise über Monate, schließlich weit über ein Jahr hinaus stündliche Verabreichungen von Injektionen Tag und Nacht und alles andere, das nur der wissen, begreifen und achten kann, der es geleistet oder tatsächlich mit eigenen Augen unmittelbar gesehen hat. Wie leichtfertig gehen die, die nie in eine solche Lage gekommen sind, mit ihren Urteilen um, sie wissen nichts vom
Leiden
. Es war ja noch nicht lange her, daß ich den mir liebsten Menschen verloren hatte, meinen Großvater, ein halbes Jahr später hatte ich auch schon die Gewißheit, den zu verlieren, der mir nach ihm am nächsten war: meine Mutter. Mit diesem Bewußtsein hatte ich meine Reise nach Grafenhof angetreten, mit dem Papierkoffer, in welchem meine Mutter und ich in den Kriegsjahren gemeinsam Erdäpfel von den Bauern nachhause getragen hatten.
Du fährst auf Erholung
, hatte meine Mutter zu mir gesagt,
erhol dich gut
. Immer wieder habe ich diese Worte im Ohr, ich höre sie heute wie damals, so gut gemeint und vernichtend! Wir alle hatten bei Kriegsende gedacht, davongekommen zu sein, und fühlten uns sicher; daß wir überlebt hatten Fünfundvierzig, hatte uns insgeheim glücklich gemacht, abgesehen von den Fürchterlichkeiten, die in keinem Verhältnis zu anderen großen und noch größeren und größten Fürchterlichkeiten gestanden waren, wir hatten viel mitgemacht, aber doch nicht das größte Elend, wir hatten viel erdulden müssen, aber doch nicht das tatsächlich Unerträgliche, wir hatten viel einstecken müssen, aber doch nicht das Entsetzlichste, und jetzt, ein paar Jahre nach dem Krieg, waren wir doch nicht davongekommen, jetzt schlug es zu, hatte uns eingeholt, wie wenn es uns aufeinmal urplötzlich zur Rechenschaft gezogen hätte. Auch wir durften nicht überleben! Ich war aus dem Totenzimmer meiner Mutter hinausgegangen und nach Grafenhof gefahren, um in ein Totenhaus einzuziehen, in ein Gebäude, in welchem sich, solange es besteht, der Tod niedergelassen hat, hier gab es nur Totenzimmer, und hier gab es viele, wenn nicht überhaupt nur Todeskandidaten und immer wieder Tote, aber diese Todeskandidaten und diese Toten gingen mir naturgemäß nicht so nahe wie meine Mutter. Diese Totenzimmer schaute ich an, beobachtete ich, aber sie erschütterten mich nicht, sie hatten nicht die Kraft, mich zu vernichten, sowenig wie die Toten, die ich hier zu sehen bekommen habe. Grafenhof war im ersten Moment kein Schock für mich, eher eine Beruhigung. Aber diese Beruhigung war ein Selbstbetrug. Ich getraute mich, Atem zu schöpfen ein, zwei Tage. Dann gestand ich selbst mir meine Irrtümer ein. Das Leben ist nichts als ein Strafvollzug, sagte ich mir, du mußt diesen Strafvollzug aushalten. Lebenslänglich. Die Welt ist eine Strafanstalt mit sehr wenig Bewegungsfreiheit. Die Hoffnungen erweisen sich als Trugschluß. Wirst du entlassen, betrittst du in demselben Augenblick wieder die gleiche Strafanstalt. Du bist ein Strafgefangener, sonst nichts. Wenn dir eingeredet wird, das sei nicht wahr, höre zu und schweige. Bedenke, daß du bei deiner Geburt zu lebenslänglicher Strafhaft verurteilt worden bist und daß deine Eltern schuld daran sind. Aber mache ihnen keine billigen Vorwürfe. Ob du willst oder nicht, du hast die Vorschriften, die in dieser Strafanstalt herrschen, haargenau zu befolgen. Befolgst du sie nicht, wird deine Strafhaft verschärft. Teile deine Strafhaft mit deinen Mithäftlingen, aber verbünde dich nie mit den Aufsehern. Diese Sätze entwickelten sich in mir damals ganz von selbst, einem Gebet nicht unähnlich. Sie sind mir bis heute geläufig, manchmal sage ich sie mir vor, sie haben ihren Wert nicht verloren. Sie enthalten die Wahrheit aller Wahrheiten, so unbeholfen sie auch abgefaßt sein mögen. Sie treffen auf jeden zu. Aber nicht immer sind wir bereit, sie anzunehmen. Oft geraten sie in Vergessenheit, manchmal jahrelang. Aber dann sind sie wieder da und
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