Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
die eigentlichen Herrscher und die Peiniger ihrer Mitpatienten. Wer hier neu hereinkam, hatte es nicht leicht, er war ganz unten und mußte schauen, wie er sich hinaufarbeitete, aus der absoluten Unterprivilegiertheit heraus in die Höhe, das war ein mühseliger Prozeß, er dauerte nicht nur Monate, er dauerte Jahre. Aber die meisten hatten diese Zeit gar nicht, sie starben früher. Sie kamen herein und waren eine Zeitlang gesehen, machten alles mit, was vorgeschrieben war, und verschwanden dann, zuerst in kleineren Zimmern, dann in einem Krankenwagen, der sie nach Schwarzach brachte in das dortige ordentliche und allgemeine Spital, wo sie binnen kurzem starben, denn im Grunde war man über Todesfälle unter den Patienten in Grafenhof nicht glücklich, und stand ein Tod unmittelbar bevor, entledigte man sich des Opfers, man entzog es den Blicken, brachte es nach Schwarzach, begnügte sich mit der Todesnachricht aus dem Spital. Aber nicht immer waren diese Todesfälle vorauszusehen, dann machte der Leichenwagen im Hof seine Runde, argwöhnisch betrachtet von allen Seiten, ich habe das Zuklappen der Hintertüren dieses Leichenwagens noch im Ohr, manchmal höre ich es, auch mitten am Tag, völlig unvermittelt, auch heute noch. War die Visite zuende, wurde wieder umso eifriger gespuckt, die Patienten unterhielten sich, obwohl es strengstens verboten war, während der Liegezeiten miteinander zu sprechen, Medizinisches wurde ausgetauscht, begutachtet, die Ärzte wurden der Kritik unterzogen oder auch nicht. Die Lethargie war meistens zu groß für Bewegungen, schlaff und steif lagen alle da unter ihren Kotzen und starrten vor sich hin. Ihre Blicke waren immer nur auf den Berg gerichtet, auf das zweitausend Meter hohe Heukareck, auf die graue, unüberbrückbare Felswand. Meine Schicksalswand! Zuerst hatten sie sich zu fügen, dann einzurichten nach ihren Möglichkeiten, die in einer Anstalt wie Grafenhof naturgemäß nur beschränkt sein konnten, die Patienten, wie viele, weiß ich nicht mehr, vielleicht waren es zweihundert meiner Schätzung nach, etwa die Hälfte Frauen, die im ersten Stock untergebracht waren, streng isoliert von den Männern im zweiten. Ebenerdig gab es noch mehrere sogenannte Loggien für
besondere Patienten
, die entweder
besonders krank
oder
besonders bevorzugt
waren ihrer gesellschaftlichen Stellung, ihrer Reputationen wegen, Frauen und Männer. Sie hatte ich nur von weitem gesehen, vom Stiegenhaus aus. Mein Zwölferzimmer war mein Ausgangspunkt, ich durfte nicht erwarten, bald aus diesem Zimmer herauszukommen, warum auch. Nach und nach lernte ich die Namen und die Eigenheiten meiner Mitpatienten kennen, war ich ursprünglich von meinem Großvater zu einem absoluten Einzelmenschen erzogen worden mit allen Mitteln, mit allen Konsequenzen nach seinen und meinen Möglichkeiten, so hatte ich es in den letzten Jahren gelernt, mit anderen zusammenzusein, und besser und eindringlicher gelernt als andere, ich war inzwischen an die größere Gemeinschaft gewöhnt, das Internat hatte es mich gelehrt, die Krankenhäuser hatten mich dafür reif gemacht, ich hatte keine Schwierigkeiten mehr damit, ich war es schon gewohnt, mitten unter vielen zu sein mit den gleichen Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten, unter den gleichen Voraussetzungen, unter denselben Bedingungen, die nicht leicht waren. So hatte ich wenig Schwierigkeiten bei meinem Antritt in Grafenhof, was die Gemeinschaft betrifft, wieder war es eine Leidensgemeinschaft gewesen. Das Zwölferzimmer war, bis auf den Doktor der Rechte, von Lehrlingen und Hilfsarbeitern belegt, die alle in meinem Alter waren, zwischen siebzehn und zweiundzwanzig. Auch hier herrschten alle möglichen Übelstände einer aufeinander angewiesenen Menschengemeinschaft, auch hier herrschten der Argwohn, der Neid, die Rechthaberei, aber auch der Übermut und der Witz, wenn diese auch sehr gedämpft, dem Leidenszustand dieser jungen Menschen angemessen gewesen waren. Gleichmut war vorherrschend, nicht Gleichgültigkeit. Auf keinen der Scherze, die in solchen Gemeinschaftszimmern üblich sind, wurde verzichtet, aber die Roheit und die Brutalität waren nur eine halbe, genauso die Lustigkeit, selbstverständlich. Hier ahnte man mehr, als man wußte, obwohl hier alle schon sehr viel wußten, weil sie schon sehr viel gesehen hatten. Der junge Mensch überspielt aber noch mit größtem Geschick und mit dem allergrößten Phantasievermögen das Unabwendbare, das Entsetzliche, das er doch
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