Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
klären auf. Im Grunde war ich auf Grafenhof vorbereitet. Ich hatte das Salzburger Krankenhaus, ich hatte Großgmain hinter mir. Ich hatte schon die Elementarschule der Krankheiten und des Sterbens hinter mir, ja schon die Mittelschule. Ich beherrschte das Einmaleins der Krankheit und des Sterbens. Nun besuchte ich auch schon den Unterricht in der Höheren Mathematik der Krankheit und des Todes. Diese Wissenschaft hatte mich, zugegeben, immer schon angezogen gehabt, jetzt entdeckte ich, daß ich sie mit Besessenheit studierte. Längst hatte ich alles allein dieser Wissenschaft unterworfen, ganz von selbst war ich auf diese Wissenschaft gekommen, die Umstände hatten mich in keine andere als in diese Wissenschaft führen müssen, in welcher alle übrigen Wissenschaften enthalten sind. Ich war in dieser Wissenschaft aufgegangen, so hatte ich mich selbst auf die natürlichste Weise vom wehrlosen Opfer zum Beobachter dieses Opfers und gleichzeitig zum Beobachter aller andern gemacht. Dieser Abstand war einfach lebensnotwendig, nur so hatte ich die Möglichkeit, meine Existenz zu retten. Ich kontrollierte meine Verzweiflung und die der anderen, ohne sie tatsächlich beherrschen, geschweige denn abstellen zu können. Es herrschten hier die strengen Regeln, wie ich sie schon von den anderen Anstalten kannte, wer sich nicht an diese Regeln hielt, wurde bestraft, im schlimmsten Falle mit sofortiger Entlassung, was aber tatsächlich nicht im Interesse eines einzigen Patienten gewesen war. Es hatte immer wieder derartige fristlose Entlassungen gegeben, ob tatsächlich zu Recht oder nicht, kann ich nicht sagen, aber diese Entlassenen kamen in den meisten Fällen in kürzester Zeit um, weil sie, außer Kontrolle geraten, mit der Gefährlichkeit und beinahe mit Sicherheit Tödlichkeit ihrer Krankheit nicht vertraut, in der brutalen, ahnungslosen sogenannten gesunden Welt umkommen mußten. Aus der Anstalt entlassen, überließen sie sich naturgemäß augenblicklich ihrem tatsächlich unersättlichen Lebens- und Existenzhunger und gingen darin und im Unverständnis und in der Ahnungslosigkeit und Rücksichtslosigkeit der Gesundengesellschaft unter. Es sind mir zahllose Beispiele bekannt, daß Entlassene, nicht gesunde, sondern sogenannte fristlos oder auf eigene Gefahr Entlassene, nicht lange überlebt haben. Aber davon ist hier nicht die Rede. Um sechs Uhr wurde aufgestanden, um sieben Uhr war das Frühstück, um acht lagen alle schon auf der Liegehalle, auf welcher um neun die Visite erschien, jahrelang mit dem gleichen Zeremoniell in der gleichen Besetzung, nicht nur was die Ärzte betrifft, auch die Patienten waren oft jahrelang dieselben, weil die meisten jahrelang in Grafenhof bleiben mußten, nicht, wie sie vielleicht in ihrer Ahnungslosigkeit bei ihrer Einweisung geglaubt hatten, wochenlang oder monatelang, nach Grafenhof eingewiesen werden hieß in den meisten Fällen, auf Jahre in Grafenhof sein, in jahrelanger Isolierung, in jahrelanger Anhaltung, Verwahrung, wie immer. Wie gut, daß der Neue nicht wußte, wie lange er hier zu sein hatte, er hätte nicht mitgemacht. Die wenigsten konnten Grafenhof nach drei Monaten verlassen und von diesen wenigsten die wenigsten für immer, bald waren sie wieder in der Anstalt, zum zweitenmal ausgiebig, jahrelang. Selbst mit einem lächerlichen Schatten, wie ich ihn hatte, mußte man mindestens drei Monate in Grafenhof bleiben, das erfuhr das von der Gesundheitsbehörde getäuschte Opfer sofort nach der Aufnahme. Drei Monate war die Mindestgrenze, sie verlängerte sich auf sechs Monate, auf neun Monate undsofort, es gab Patienten, die drei und mehr Jahre in Grafenhof waren, die sogenannten Alteingesessenen, die sofort an ihrem Gehaben zu erkennen waren, durch ihre Rücksichtslosigkeit und Kaltblütigkeit gegenüber den anderen, durch ihr Verhalten den Ärzten gegenüber, es war ihnen nichts vorzumachen, und sie zerstreuten immer, wo sie auftauchten, alle Zweifel darüber, was sie wußten, sie waren immer die Überlegenen, kranker und hoffnungsloser als alle anderen, aber überlegen, dem Tode näher als alle anderen, aber überlegen. Sie waren außen und innen abstoßend und von den Ärzten ebenso gefürchtet wie von den übrigen Patienten, sie hatten sich mit der Zeit Rechte erworben, die die anderen nicht haben konnten, die ihnen niemand streitig machen konnte, auch die Ärzte nicht, die Schwestern nicht, niemand, sie waren dem Tod am nächsten, dadurch hatten sie Vorteile. Sie waren
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