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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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schon genau zu sehen bekommt. Er nimmt wahr, aber er ist noch nicht zur Analyse bereit. Zum Unterschied vom Krankenhaus waren die meisten in der Lungenheilstätte nicht an ihr Bett gebunden, sie konnten aufstehen und umhergehen, den Tagesablauf nach Vorschrift befolgen. Sie konnten sich innerhalb der Gesetze, die hier herrschten, frei bewegen, sie waren imstande, die Heilstätte bis an die gesetzten Grenzen, Markierungen, Zäune zu verlassen, Spaziergänge zu unternehmen, allein oder nicht, wie immer. Ich hatte mich einem wenn auch schon ungefähr zehn Jahre älteren, so doch noch sehr jungen Mann angeschlossen, den ich zum erstenmal in der Kapelle gesehen hatte, er war hinter dem Harmonium, das dort stand, gesessen und hatte etwas über Johann Sebastian Bach phantasiert, allein. Er war Kapellmeister von Beruf und von den geistlichen Schwestern dazu ausersehen, ihre täglichen Messen auf dem Harmonium zu begleiten, ich fand sein Spiel außergewöhnlich, es hatte mich sofort angezogen gehabt, ich war darauf aufmerksam geworden auf dem Gang zur Liegehalle, ich war stehengeblieben und in die Kapelle hineingegangen. Zuerst hatte ich mich nicht getraut, den Mann anzusprechen, aber dann hatte ich mir Mut gemacht und mich vorgestellt. So hatte eine bis heute andauernde Freundschaft begonnen, eine Zeugenfreundschaft wie keine zweite. Die Musik hatte mich einen Menschen finden, mich einem Menschen anschließen lassen, die Musik, die mir so viele Jahre alles gewesen war und die ich schon so lange nicht mehr gehört hatte, da war sie wieder und so kunstvoll wie lange nicht. Ich hatte einen Gesprächspartner für Spaziergänge, einen Erklärer, einen Aufklärer, einen jungen, zugleich erfahrenen Menschen, der schon viel gereist war, viel gesehen hatte. Er war Mozarteumabsolvent und hatte in der Schweiz ein Engagement gehabt, weil in Österreich für ihn kein Platz gewesen war, dieses Land hat für seine eigenen Künstler nie Platz gehabt, es trieb sie hinaus in alle Länder, rücksichtslos, auf die brutalste Weise. Hier war es schon wieder, das Beispiel, von welchem ich immer gesprochen habe, immer sprechen werde: der in der Heimat mißachtete, ja verachtete Künstler, der das Weite zu suchen hat. In Österreich werden die hervorragendsten Künstler produziert, um ausgestoßen zu werden in alle Welt, gleich welcher Art ihre Kunst ist, die Begabtesten werden abgestoßen, hinausgeworfen. Was bleibt, sind die Anpassungsfähigen, die Mittelmäßigen, die Kleinen und Kleinsten, die in diesem Lande schon immer das Sagen gehabt haben und haben, die die Kunstgeschicke dieses Landes lenken, ehrgeizig, engstirnig, kleinbürgerlich. Krank und verzweifelt oder weltberühmt kommen die Begabtesten, die Genialen zurück, in jedem Falle zu spät, dann, wenn sie halbtot oder alt sind. Doch das ist eine alte Geschichte, die ich nicht müde werde immer dann wenigstens anzudeuten, wenn die Gelegenheit dazu da ist. Noch hatte ich ja damals nicht viele Künstler kennengelernt, wenigstens nicht persönlich, und ihre Lebensläufe waren mir nicht bekannt, weder ihre Regel kannte ich noch ihre Ausnahmen. Mein Freund war ein ungewöhnlich begabter Musiker, der einen klaren Kopf zu haben schien, einen geschärften Verstand, weshalb es für mich ein Vergnügen war, mich mit ihm zu unterhalten. Mittellos, verdingte er sich in den Sommermonaten, weit weg von den Musikzentren Zürich und Luzern, als Barmusiker in Arosa, das hatte ihn krank gemacht. Nun war er schon viele Monate, fast ein Jahr lang in Grafenhof. Wir saßen sehr oft auf einer Bank über der Frauenliegehalle, er berichtete, ich hörte zu. Ich hatte einen Gesprächspartner, von welchem ich vieles lernen konnte, lange hatte ich einen solchen Menschen mit seinen Fähigkeiten vermißt, mir schien, seit dem Tod meines Großvaters hatte ich keinen mehr gehabt, dem ich zuhören konnte, ohne verzweifeln zu müssen, und dem ich vertrauen konnte. Er war liechtensteinischer Staatsbürger wie sein Vater, der aus Liechtenstein stammte, er war aber in Salzburg geboren. Wir hatten unzählige Themen von Anfang an, die Kunst, die Musik, Salzburg, Österreich, die Krankheit, aber von dieser redeten wir am wenigsten, nicht wie die andern, die beinahe nur von der Krankheit redeten, das brauchten wir nicht, denn die Krankheit und ihren Verlauf zu beobachten war das Selbstverständlichste, wir hatten bessere, nützlichere Themen, den Kontrapunkt beispielsweise, die Bachschen Fugen, die Zauberflöte, Orpheus und

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