Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
bedeutete. Sie wußte, als ich mich von ihr verabschiedete, schon, daß sie in kurzer Zeit sterben würde, ob in einem halben, ob in einem ganzen Jahr, war nicht mit Sicherheit auszumachen, sie hatte ein kräftiges Herz auch noch zu dem Zeitpunkt, als sie schon gänzlich abgemagert war und nurmehr noch Haut und Knochen hatte. Ihr Verstand war von dieser fürchterlichsten aller Krankheiten nicht getrübt gewesen, er war es bis zu ihrem Ende nicht, das noch eine Zeit auf sich warten ließ, obwohl wir alle es sehnlichst herbeiwünschten, weil wir den Zustand meiner Mutter nicht mehr mitanschauen, ganz einfach nicht mehr ertragen konnten. Als ich mich von meiner Mutter verabschiedete, um nach Grafenhof zu gehen, in diese neue Ungewißheit, hatte ich ihr ein paar meiner Gedichte vorgelesen. Sie hatte geweint, beide hatten wir geweint. Ich hatte sie umarmt und meinen Koffer gepackt und war verschwunden. Würde ich sie überhaupt wiedersehen? Sie hatte meine Gedichte anhören
müssen
, ich hatte sie erpreßt, ich hatte die Gewißheit, meine Gedichte sind gut, Produkte eines achtzehnjährigen Verzweifelten, der außer diesen Gedichten nichts mehr zu haben schien. Ich hatte mich schon zu dieser Zeit in das Schreiben geflüchtet, ich schrieb und schrieb, ich weiß nicht mehr, Hunderte, Aberhunderte Gedichte, ich existierte nur, wenn ich schrieb, mein Großvater, der Dichter, war tot, jetzt durfte
ich
schreiben, jetzt hatte
ich
die Möglichkeit, selbst zu dichten, jetzt getraute ich mich, jetzt hatte ich dieses Mittel zum Zweck, in das ich mich mit allen meinen Kräften hineinstürzte, ich mißbrauchte die ganze Welt, indem ich sie zu Gedichten machte, auch wenn diese Gedichte wertlos waren, sie bedeuteten mir alles, nichts bedeutete mir mehr auf der Welt, ich hatte nichts mehr, nur die Möglichkeit, Gedichte zu schreiben. So war es das Natürlichste, daß ich, bevor ich mich von meiner Mutter, die wir zuhause gelassen hatten, weil wir wußten, was, sie dem Krankenhaus ausliefern, bedeutete, verabschiedete, ihr Gedichte aus meinem Kopfe vorgelesen hatte. Wir hatten nicht die Kraft, etwas zu sagen, wir weinten nur und drückten unsere Schläfen aneinander. Meine Reise nach Grafenhof durch das finstere Salzachtal war die bedrückendste meines Lebens. In meinem Gepäck hatte ich auch ein Bündel Papier mit meinen letzten Gedichten. Bald werde ich außer diesem Gedichtbündel nichts mehr haben auf der Welt, das mir etwas bedeutet, an das ich mich klammern kann, hatte ich gedacht. Tuberkulose! Grafenhof! Und meine Mutter in einem rettungslosen Zustand, von den Ärzten aufgegeben. Ihr Mann, mein Vormund, und meine Großmutter waren, so kurz nach dem Tod meines Großvaters, schon wieder auf die Probe gestellt. Jetzt fuhr ich mit dem Frühzug auf das Schreckenswort zu:
Grafenhof!
Danach zu fragen hatte ich mich nur halblaut getraut. Zweihundert Meter vor der Heilstätte waren überall Schilder angebracht mit der Aufschrift:
Halt. Anstalt. Verbotener Weg
. Kein Gesunder überging diese Mahnung freiwillig. Von der Heilstätte aus lautete der Text:
Halt! Durchgang verboten!
Ich ging in eine Verzweiflung hinein, und ich hatte eine Verzweiflung zurückgelassen. Da, wo ich hergekommen war, herrschte schon mit größter Entschiedenheit der Tod, da, wo ich angekommen war, ebenso. Heute ist dieser Zustand von damals nurmehr schwer und nur unter den größten Widerständen überhaupt andeutbar. Meine Geistesverfassung kann nicht mehr wiedergegeben werden, mein Gefühlszustand läßt sich nicht mehr ausmachen, ich hüte mich auch, weiter zu gehen als unbedingt notwendig, weil mir selbst die Peinlichkeit einer Grenzüberschreitung in Richtung auf die oder überhaupt auf eine diesbezügliche Wahrheit unerträglich ist. Obwohl ich aber in die Hölle hineingegangen war, indem ich nach Grafenhof hineingegangen bin, hatte ich doch zuerst das Gefühl gehabt, ich bin der Hölle entronnen, entkommen bin ich ihr, das Entsetzen, das Unerträgliche habe ich zurückgelassen. Ruhe umgab mich aufeinmal, Ordnung. Einem unmenschlichen, wenn auch gott-gewollten Chaos war ich davongelaufen, so dachte ich, und ich hatte sogar ein schlechtes Gewissen, denn ich hatte ja die Meinigen mit meiner todkranken Mutter zurückgelassen, mit allem Elend, mit allen Fürchterlichkeiten. Scham empfand ich, daß ich hierher, in
die geordnete Versorgung
, gegangen war.
Aus dem Chaos
einer hilflosen, schon beinahe völlig zerstörten Familie
in Pflege
. Hier bekam ich aufeinmal
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