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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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Bequemlichkeitsspekulation zu mißbrauchen, mir einzubilden, mein Ende, mein Tod, mein Absterben sei mit ihrem vergleichbar, ich hatte den Tod von Millionen Menschen mißbraucht, indem ich mich diesem ihrem Tod anzuschließen wünschte. Ich hätte diesen Gedanken noch in die Tiefe treiben und mit ihm bis an die äußerste Grenze seiner und also meiner Verrücktheit und Geschmacklosigkeit gehen können, aber ich hütete mich davor. Meine Ansichten waren nur pathetisch gewesen, mein Leiden nur theatralisch. Aber ich schämte mich jetzt nicht, dafür hatte ich keine Zeit, einen klaren Kopf ohne Sentiment wünschte ich, das erforderte meine ganze Kraft. Die Wahrheit ist, daß ich an demselben Tag in das Labor gerufen wurde, um zur Kenntnis zu nehmen, daß das Sputum vor drei, vier Tagen, in welchem sich die Tuberkeln gefunden hatten, gar nicht mein Sputum gewesen sei, eine Verwechslung habe es gegeben, eine Tatsache, wie sie noch niemals in diesem Labor vorgekommen,
unterlaufen
sei. Mein Sputum sei nach wie vor tuberkelfrei. Tatsächlich war nach dieser Eröffnung ein paarmal hintereinander mein Sputum untersucht worden, jedesmal mit negativem Ergebnis. Ich war also doch nicht positiv. Als ob ich diesen Umstand heraufbeschworen hätte, verhielt ich mich jetzt. Ich machte kein Aufhebens von dieser Tatsache, argwöhnisch, wie ich war, bestand ich selbst jetzt darauf, daß das Labor ein paarmal hintereinander mein Sputum analysierte, das Ergebnis blieb gleich.
Es war
ein Irrtum des Labors gewesen. Jetzt hatte ich die Voraussetzungen, meinen Kampf aufzunehmen, abgesehen davon, daß ich nicht positiv war, hatte ich immerhin noch meinen Schatten auf der Lunge, der mit Streptomyzin-injektionen bekämpft wurde, leider, wegen der hohen Kosten, wie gesagt wurde, in einer viel zu geringen Dosis. Jeder Patient erhielt von der Kostbarkeit nur eine geringe Menge, die, wie ich später erfahren habe, nutz- und sinnlos gewesen war. Mehr Streptomyzin bekam nur der gespritzt, der es sich selbst aus der Schweiz oder aus Amerika kommen lassen konnte oder der eine gehörige Protektion bei den Ärzten, naturgemäß in erster Linie beim Direktor, dem allgewaltigen Primarius, hatte. Nachdem ich wußte, daß ich zu wenig Streptomyzin bekam, eine lächerliche Menge und also soviel wie gar nichts, hatte ich einen Vorstoß bei dem Triumvirat unternommen, wurde aber sofort abgewiesen, meine Forderung bezeichnete das Triumvirat als unerhört, meinen Wunsch nach mehr Streptomyzin klassifizierten sie als Unverschämtheit, ich wisse nichts, sie wüßten alles, während ich selbst damals bereits, weil es ja meine Existenz betroffen hatte, nicht mehr der Dümmste auf diesem Gebiete der Lungenheilkunde gewesen war und genau wußte, daß meine Behandlung eine größere Menge Streptomyzin erforderte. Ich bekam sie aber nicht, weil ich gesellschaftlich eine Null war. Andere bekamen, was sie brauchten, sie hatten die Reputation, die Fürsprache, einen Beruf, der mehr Eindruck machte. Das Streptomyzin wurde nicht nach der Notwendigkeit ausgegeben, sondern nach den schäbigsten Gesichtspunkten, die sich denken lassen. Nicht ich allein war im Nachteil. Es gab die eine Hälfte der Bevorzugten, und es gab die andere Hälfte der Benachteiligten. Ich gehörte absolut zur zweiteren. Ich hatte naturgemäß nicht die Absicht, unter
gewissen
Umständen, unter Zuhilfenahme
geeigneter
Mittel in die erstere aufzusteigen, dazu fehlte es mir an gemeiner Schläue, ja auch an der Gemeinheit selbst, ich hatte nicht den Willen dazu. Aber auch ohne diese gemeinen Mittel zum Zweck gedachte ich mich herauszukämpfen aus dieser Hölle, aus dieser Dependance der Hölle, als welche ich die Heilstätte und ihren Inhalt jetzt sehen mußte. Die Ärzte und ihre Charakterschwächen, ja ihre Gemeinheiten und Niedrigkeiten, die ich inzwischen erfahren hatte genauso wie die Charakterschwächen und die Gemeinheiten und Niedrigkeiten der Patienten, hatten mich hellhörig gemacht, mein Verstand hatte profitiert, auch an der Beobachtung der geistlichen Schwestern, der Kreuzschwestern, schulte ich mich. Ich begann mich weniger mit mir selbst als mit meiner nächsten und näheren Umgebung zu befassen, sie zu durchforschen; nachdem ich tatsächlich jetzt nicht mehr positiv und also unmittelbar dem Tod ausgeliefert war, konnte ich mir ein solches Studium erlauben. Was sind das wirklich für Menschen hier, und in welchen Mauern und in welchen Verhältnissen existieren sie, und wie verhält sich alles

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