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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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das zueinander? fragte ich mich, und ich ging an die Arbeit. Es war nicht meine erste Konfrontation mit einer größeren Menschengemeinschaft, ich kannte die Masse vom Internat und von den Krankenhäusern, in welchen ich schon gewesen war, ich kannte ihren Geruch, ihren Lärm, ihre Absichten und Ziele. Neu war, daß es sich hier tatsächlich um Ausgestoßene, Ausgeschiedene handelte, Entrechtete, Entmündigte. Hier zündete keine Phrase, die weltbewegenden Schlagwörter trafen nicht. Hunderte waren hier in ihre scheußlichen Schlafröcke geschlüpft, in diese Schlafröcke hineingeflüchtet, um sie zu irgendeinem Zeitpunkt, der nicht mehr weit sein konnte, mit den Totenhemden einer gerissenen Leichenausstattungsfirma in Schwarzach unten zu tauschen. Nein, ich gehörte nicht mehr dazu, der Irrtum war aufgeklärt, ich hatte abermals meinen Beobachterposten bezogen. Die hier hinausgetragen und abtransportiert wurden im Leichenwagen, gehörten einer anderen Menschenschicht an, sie hatten mit mir nichts zu tun.
Sie
waren die Befallenen, nicht ich,
sie
waren die
Todgeweihten
, nicht ich. Auf einmal glaubte ich, ein Recht zu haben, mich abzusetzen. Ich spielte hier eine undurchschaubare Rolle, so unauffällig als nur möglich, aber ich endete in diesem Stück nicht wie sie. Die meisten hatte der Krieg hier angeschwemmt wie an eine Leidensklippe, da, von der Brutalität der Ereignisse an die Felswand geworfen, fristeten sie ihre letzten Wochen, Monate. Woher waren sie? Aus was für Verhältnissen kamen sie? Es brauchte Zeit, um ihre Herkunft ausfindig zu machen: zusammengefallene Wiener Stadtviertel, finstere, feuchtkalte Gassen der sogenannten Mozartstadt, in welcher die Krankheiten sich sehr rasch zu Todeskrankheiten entwickeln konnten, Provinznester, in welchen die Minderbemittelten, wenn sie nicht ununterbrochen aufpaßten, verrotteten, ehe sie noch erwachsen geworden waren. Die Lungenkrankheit hatte nach Kriegsende eine neue Hochblüte. Jahrelanger Hunger, jahrelange Verzweiflung hatten alle diese Leute unweigerlich in die Lungenkrankheit, in die Spitäler, schließlich nach Grafenhof befördert. Sie waren aus allen Schichten gekommen, aus allen Berufen, Männer wie Frauen. Einmal als lungenkrank klassifiziert, waren sie auch schon hierher abgeschoben. Heilstätte als Isolationshaft. Die sogenannte gesunde Welt hatte eine panische Angst vor dem Wort
Lungenkrankheit
, vor dem Begriff der
Tuberkulose
, geschweige denn vor dem Begriff der
offenen Lungentuberkulose
; sie hat sie heute noch. Sie fürchtete sich vor nichts mit einer größeren Intensität.
Was
es tatsächlich bedeutete, lungenkrank zu sein, positiv zu sein, erfuhr ich am eigenen Leib erst später. Ob ich es glaubte oder nicht, es war in jedem Falle ungeheuerlich, menschenunwürdig. Schon bevor ich nach Grafenhof gekommen war, von dem Augenblick an, in welchem ich wußte, nach Grafenhof gehen zu müssen, getraute ich mir diese Tatsache nicht und niemandem zu sagen, hätte ich gesagt, ich gehe nach Grafenhof, ich wäre schon draußen, also in Salzburg, erledigt gewesen. Ob meine Leute wußten,
was
Grafenhof wirklich bedeutete, weiß ich nicht, sie hatten sich diese Frage nicht gestellt, dafür hatten sie keine Zeit, ihr Augenmerk war auf die Krankheit meiner Mutter, die schon als tödlich erkannt gewesen war, gerichtet. Ohne daß ich selbst es mir voll und ganz erklären hatte können, war mir das Wort Grafenhof schon seit frühester Kindheit als Schreckenswort bekannt. Es war schlimmer, nach Grafenhof zu gehen, als nach Stein oder Suben oder Garsten, in die berühmten Strafanstalten. Mit einem Lungenkranken verkehrte man nicht, es wurde ihm aus dem Weg gegangen. Einmal von der Lungenkrankheit befallen, tat das Opfer gut daran, diesen Sachverhalt zu verschweigen. Auch die Familien isolierten, ja ächteten ihre Lungenkranken, die meinige nicht ausgenommen. Aber es war ihnen in meinem Falle nicht möglich, sich tatsächlich
ganz
auf meine Lungenkrankheit zu konzentrieren, denn der Gebärmutterkrebs meiner Mutter, der zu jener Zeit schon in sein gefährlichstes, schmerzhaftestes und gemeinstes Stadium getreten war, beschäftigte sie naturgemäß mehr. Meine Mutter lag schon monatelang im Bett, mit Schmerzen, die auch von stündlich und in noch viel kürzeren Abständen gegebenen Morphiumspritzen nicht mehr gestillt, ja nicht einmal mehr gelindert werden konnten. Ich hatte ihr gesagt, ich ginge nach Grafenhof, aber es war ihr sicher nicht bewußt gewesen, was das

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