Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
Augenblick auf den andern ein Gewitter hereingebrochen, das die Landschaft, die ich gerade noch mit dem höchsten aller Hochgefühle durcheilt hatte, in ein Inferno verwandelte. Brutale Wassermassen ergossen sich über mich und hatten in Sekundenschnelle aus der Straße einen reißenden Fluß gemacht, und unter den tosenden Wassermassen mein Rad schiebend, heulte ich unaufhörlich. Bei jeder Umdrehung verklemmten sich die verbogenen Speichen, die Finsternis war vollkommen, ich sah nichts mehr. Wie immer, so dachte ich, bin ich einer Versuchung, die nur ein durch und durch furchtbares Ende haben konnte, zum Opfer gefallen. Entsetzt stellte ich mir den Zustand meiner Mutter vor, wie sie, nicht zum erstenmal, die Polizeiwachstube im Rathaus betritt, ratlos, wütend, von dem
schrecklichen, fürchterlichen
Kind stammelnd. Der Großvater, weit außerhalb und am anderen Ende der Stadt, hatte keine Ahnung. Auf ihn setzte ich jetzt wieder alles. Es war mir klar: an den Montagsschulbesuch war nicht zu denken. Ich hatte mich unerlaubt und auf die gemeinste Weise aus dem Staub gemacht und dazu auch noch das Waffenrad meines Vormunds ruiniert. Ich schob ein Gerümpel. Mein Körper war abwechselnd von den Wassermassen und von einer unbarmherzigen Angst geschüttelt. So tappte ich mich mehrere Stunden zurück. Alles wollte ich wiedergutmachen, aber hatte ich überhaupt noch die Möglichkeit dazu? Ich hatte mich nicht geändert, meine Beteuerungen waren nichts wert, meine guten Vorsätze waren wieder nichts anderes als Geplapper gewesen. Ich verfluchte mich. Ich wollte sterben. Aber so einfach war das nicht. Ich bemühte mich um eine menschenwürdige Haltung. Ich verurteilte mich zur Höchststrafe. Nicht zur Todesstrafe, aber zur Höchststrafe, wenn ich auch nicht genau wußte, was diese Höchststrafe sein könnte, gleich darauf war ich mir wieder der Absurdität dieses teuflischen Spiels bewußt. Die Schwere der Verbrechen hatte zweifellos zugenommen, das empfand ich ganz deutlich. Alle bisherigen Vergehen und Verbrechen waren gegen dieses nichts. Meine Schulschwänzereien, meine Lügen, meine immer wieder überall gestellten Fallen kamen mir gegenüber meinem neuen Vergehen oder Verbrechen, wie immer, harmlos vor. Ich hatte einen gefährlichen Grad meiner Verbrecherlaufbahn erreicht. Das kostbare Waffenrad ruiniert, die Kleider beschmutzt und zerrissen, das ganze Vertrauen in mich auf die niederträchtigste Weise gebrochen. Das Wort Reue empfand ich augenblicklich als geschmacklos. Ich rechnete, während ich mein Fahrrad durch das Inferno schob, immer wieder alles von oben bis unten durch, addierte, dividierte, subtrahierte, der Urteilsspruch mußte entsetzlich sein. Das Wort
unverzeihlich
markierte fortwährend meine Gedanken. Was nützte es, daß ich heulte und mich verfluchte? Ich liebte meine Mutter, aber ich war ihr kein lieber Sohn, nichts war einfach mit mir, alles Komplizierte meinerseits überstieg ihre Kräfte. Ich war grausam, ich war niederträchtig, ich war hinterhältig, ich war, das war das Schlimmste, gefinkelt. Der Gedanke an mich erfüllte mich mit Abscheu. Wenn ich, zuhause an ihre Schulter gelehnt, ihr Atmen zu meinem Glück machen könnte, wenn sie ihren Tolstoj liest oder einen anderen von ihr geliebten russischen Roman, dachte ich. Wie verkommen ich bin. Ekelhaft. Wie ich meine Seele beschmutzt habe! Wie ich Mutter und Großvater wieder zutiefst betrogen habe! Du bist, was sie dich nennen,
das scheußlichste aller Kinder!
Ich dachte, ich könnte jetzt, wo die Welt doch nichts ist als eine zutiefst verabscheuungswürdige, finstere Häßlichkeit, wäre ich zuhause, ohne Scham und ohne schlechtes Gewissen ins Bett gehen. Ich hörte das
Gute Nacht
meiner Mutter und heulte noch heftiger. Hatte ich denn überhaupt noch Schuhe an den Beinen? Es war, als hätte der Regen alles von mir weggeschwemmt, als hätte er mir nichts als meine Armseligkeit gelassen. Aber ich durfte nicht aufgeben. Ein Licht und das in dem Licht langsam erkennbare Wort
Gasthaus
waren jetzt meine Hoffnung. Mein Großvater hatte mich immer gewarnt: die Welt ist widerwärtig, unerbittlich, tödlich. Wie recht er hatte. Es ist alles noch viel schlimmer, als ich dachte. Eigentlich wollte ich auf der Stelle tot sein. Aber dann schob ich das Fahrrad noch die paar Meter auf die Gasthaustür zu, lehnte es an die Mauer und trat ein. Auf einem Podium tanzten Bauernburschen und-mädchen zu einer Kapelle, die mir wohlbekannte Tänze spielte, aber das
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