Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
Gegenstand. Bei der geringsten Gelegenheit entfloh ich der Anstalt und eilte in das sogenannte Armenhaus, in welchem meine neue Lehrerin hauste, in einer hölzernen Kammer unter dem Dach wie in einem Versteck, das aufeinmal auch für mich ein absolutes Versteck geworden war. In dieser Kammer habe ich wieder zu mir gefunden, zu meiner Existenzvoraussetzung. Eines Tages betrat ich die Liegehalle, und ich traute meinen Augen nicht: neben meiner Liegestatt hatte mein Kapellmeisterfreund Platz genommen, er war denselben Tag angekommen und hatte mich überraschen wollen. Auch er war, soviel ich weiß, viele Monate, ein Jahr vorher gesund entlassen worden aus Grafenhof und hatte inzwischen eine Odyssee ohnegleichen hinter sich. Er hatte nach seiner Entlassung eine Badetour an das Adriatische Meer gemacht und das dümmste Verbrechen begangen, das ein Lungenkranker begehen kann, er hatte sich in den Sand und in die Sonne gelegt. Er, der mit dem Motorrad nach Italien gefahren war, mußte im Krankenwagen nach Österreich zurückgebracht werden. In einer komplizierten Operation war ihm in einer Wiener Klinik der Brustkorb aufgestemmt worden, sein rechter Lungenflügel mußte vollständig entfernt werden. Er hatte, wie die meisten in Grafenhof, jetzt das Markenzeichen der sogenannten
Tuberer
auf dem Rücken, die Plastiknarbe von der Schulter bis zum Becken hinunter. Er hatte nicht geglaubt, überleben zu dürfen, er wundere sich selbst, daß er jetzt hier sei. Wir berichteten uns, es war naturgemäß nichts Erfreuliches. Aber
sein
Bericht hatte nicht die Kraft, mich in
meinem
Entschluß, gesund zu werden, schwankend zu machen. Im Gegenteil war
ich
jetzt sein Vorbild. Ich weiß nicht mehr, wie viele Monate ich noch mit ihm in Grafenhof zusammengewesen bin, er weiß es heute auch nicht mehr, vielleicht war es auch über ein Jahr gewesen. Es ließe sich leicht eruieren, aber ich habe keine Lust, den dafür notwendigen Blick in den Kalender zu werfen. Wie lange war ich überhaupt in Grafenhof? und: wann war ich dann endlich entlassen? Ich weiß es nicht mehr. Ich will es nicht mehr wissen. Eines Tages verlangte ich meine Entlassung, weil ich der Meinung gewesen war, der Zeitpunkt sei da, die Ärzte wollten mich nur nicht gehen lassen. Ich hatte aber längst, immer noch mit meinem Pneumoperitoneum, anstatt mich im Bett auf die Seite zu drehen vor Trübsinn, geheime nächtliche Schlittenpartien unternommen in die Schwarzacher Tiefe hinunter, durch die Hohlwege in die menschenleeren finsteren Gassen hinein. Wenn die Nachtschwester ihr
Gutenacht
gesagt und das Licht ausgedreht hatte, stand ich auf und verschwand. Ich hatte mir im Dorf einen Schlitten geliehen und ihn tagsüber hinter einem Baum versteckt, ich setzte mich darauf und jagte hinunter. Ich wollte gehen, also ging ich,
ich
war es gewesen, der meine Entlassung bestimmte, obwohl die Ärzte dann das Gefühl gehabt hatten,
sie
hätten mich entlassen. Ich mußte verschwinden, um nicht in dieser perversen medizinischen Unheilsmühle endgültig und also für immer zermalmt zu werden.
Weg von den Ärzten, fort aus Grafenhof!
An einem kalten Wintertag ging ich hinaus, vorzeitig,
auf eigene Gefahr
, wie ich mir sagen mußte, nachdem ich mich von allen, die dafür in Frage gekommen waren, verabschiedet hatte. Ich schleppte meinen Seesack ins Dorf, stieg in den Autobus und fuhr nach Schwarzach hinunter. Von dort war ich zwei Stunden später zuhause. Ich war nicht erwartet worden, die Überraschung bedeutete einen Schock für die Meinigen. Ansteckend war ich nicht mehr, aber geheilt noch lange nicht. Sie nahmen mich auf und ernährten mich eine Zeitlang nach ihren Möglichkeiten. Ich mußte mich nach einer Beschäftigung umschauen, das war schwierig, denn ich wußte nicht, was ich anfangen sollte. Weder der Kaufmannsberuf noch das Singen kam in Frage. So spekulierte ich mehrere Wochen ergebnislos und lernte in dieser ausweglosen Situation die Stadt Salzburg und ihre Bewohner von neuem hassen. Ich suchte viele Betriebe auf, aber ich war nicht mehr fähig, in einen Betrieb einzutreten, nicht, weil ich noch krank gewesen war, ich hätte sicher arbeiten können, auch mit meinem Bauchpneu, aber ich wollte ganz einfach nicht mehr. Von jeder Arbeit, von jeder Beschäftigung war ich zutiefst abgestoßen, es ekelte mich vor dem Stumpfsinn der Arbeitenden, der Beschäftigten, die ganze Widerwärtigkeit der Beschäftigten und Arbeitenden sah ich, ihre absolute Sinn- und Zwecklosigkeit. Arbeiten,
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